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Anne-Sophie Mutter - Botschafterin der Musik

23. September 2008

Anne-Sophie Mutter am 5. Oktober und am 19. Okober jeweils um 21.05 MESZ

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Anne-Sophie MutterBild: Lilian Birnbaum/DG

Liebe Frau Mutter, mit Ihrer neuen CD erweisen Sie wieder einmal der zeitgenössischen Musik Ihre Referenz. Woher kommt die ausgeprägte Leidenschaft dafür?

Das ist sehr schmeichelhaft, dass Sie das so gewichten. Tatsache ist aber, dass ein Musiker wie Gidon Kremer sehr viel Formidableres auf diesem Gebiet geleistet hat als ich. Ich kenne keinen Geiger, der derart viele Werke initiiert und uraufgeführt hat. Für mich spielt zeitgenössische Musik seit der Uraufführung von Lutoslawski „Chain 2“ 1986 eine wichtige Rolle. Es ist unbeschreiblich aufregend, ein neues Werk zu sehen und es dann zum Klingen zu bringen. Diese Entstehung ist etwas ganz Besonderes, weil man sich sonst im Leben als Musiker nur mit Werken auseinandersetzt, die man entweder bewusst bereits gehört hat oder die in der Genetik verankert sind. Umso aufregender ist es dann, sich ein Werk zueigen zu machen, dass man nicht auf leichte Art und Weise erschließen kann, sondern sich eigenständig erarbeiten muss.

Ebenfalls eine intensive Zusammenarbeit verbindet Sie mit Penderecki, der Ihnen sein zweites Violinkonzert gewidmet hat. Wie kam es dazu?

Penderecki, Lutoslawski, Rihm, Dutilleux, das sind alles Komponisten, die ich im Hause des Dirigenten und Mäzens Paul Sacher kennen lernen durfte. Ich bin an der Schweizer Grenze im Schwarzwald aufgewachsen, und er wohnte ganz in der Nähe. Penderecki war nun eine meiner relativ frühen Begegnungen dort.

Anne-Sophie Mutter
Bild: Harald Hoffmann/DG

Wie kann man sich die Zusammenarbeit mit einem zeitgenössischen Komponisten vorstellen, der im Gegensatz zu Mozart oder Beethoven für Sie als Interpret als Ansprechpartner verfügbar ist?

Ich glaube, dass jeder Komponist mit dem Solisten im Ohr komponiert, für den er gerade schreibt, und dass Lutoslawski genau wie Penderecki oder auch Wolfgang Rihm Aspekte meines Spiels für sich als Inspiration genommen haben. Interessanterweise war das immer auch die hohe Lage meiner Stradivari, die etwas Lichtes, Strahlendes hat, wie Wolfgang Rihm es einmal schmeichelhaft ausdrückte. Allerdings ist das ja nicht meine Höhe, sondern die der Geige, weshalb ich das Kompliment gleich zurückgeben muss. Doch auch für mich ist das Sopranhafte an der Geige sehr reizvoll wie in dem neuen Werk von Sofia Gubaidulina, in dem es im Gegensatz steht zu den düsteren, dunklen und bedrohlichen Klängen der Kontrabässe und des tiefen Gongs. In der Regel vermeide ich aber Fragen und Erwähnungen von technischen und musikalischen Problemen und hoffe, dass ich mit meinem Zugang zum Werk die Intention des Komponisten treffe. Aber alleine der Gedanke daran, dass ich fragen könnte, ist eine große Erleichterung.

Sie haben gerade schon von Gubaidulinas zweitem Violinkonzert „In tempus praesens“ gesprochen, dessen Weltersteinspielung Sie mit Ihrer neuen CD vorlegen. Welchen Charakter hat das Werk?

Eigentlich ist es unmöglich, den Charakter eines Werkes in Sprache zu fassen. Aber ich will versuchen ein paar der für mich wichtigsten Punkte zu skizzieren. Das Werk beginnt mit einem Geigensolo in flehendlichem Duktus, fast wie ein Psalm oder eine Anklage. Diesem fügt sich dann der Orchesterkorpus zu, der sehr stark von den Bläsern und vom Schlagzeug geprägt ist, denn die Orchestrierung sieht keine Geigen vor, nur Violen und tiefe Streicher. Die Geige wird dabei fast schon verfolgt von den schattenhaften Violen und Celli. „In tempus praesens“ teilt sich in fünf musikalische Abschnitte, in denen es immer wieder zum Kampf zwischen hohem und tiefem Register, zwischen hell und dunkel kommt. Außerdem hat die Komponistin dem Werk die Gestalt der Sophie zugrunde gelegt, der Göttin der Inspiration und der künstlerischen Kraft, aber auch einer Person, die gegeißelt wurde. Und diese Geißelung findet 40 Takte vor der Kadenz in einer rhythmischen Figur im Orchester statt, die unverrückbar immer auf den letzten und ersten Schlag des Taktes kommt. Die Geige versucht sich, dem zu entziehen, dann mündet aber alles in der Vereinigung auf einer einzigen Note des ganzen Orchesters und der Sologeige. Nach einer ausnotierten Generalpause löst sich schließlich alles im philosophisch-flehendlichen Gestus der Solokadenz auf. Am Ende der Komposition steht dann noch eine Stelle, die mich besonders berührt. Dort gibt es eine fast russisch-orthodox klingende Begräbnisszene, eine wunderbare Wendung zu a-Moll, bei der es mir immer heiß und kalt den Rücken runterläuft.

Außer dem Violinkonzert von Gubaidulina haben Sie für die aktuelle CD auch Violinkonzerte von Bach aufgenommen, die Sie vor 20 Jahren schon einmal eingespielt haben. Wie hat sich Ihre Sicht verändert?

Was ein ganz spannender Prozess für mich war, ist der Umgang mit Barockbögen beziehungsweise mit Kopien der unterschiedlichen Bögen, die man im 17. oder auch noch Anfang des 18. Jahrhunderts benutzt hat. Diese Bögen haben mir ermöglicht, die originale Phrasierung von Bach nicht nur zu verstehen, sondern auch umzusetzen. Mit einem Barockbogen, der in seiner Gewichtsverlagerung absolut gleichmäßig ist, hat die Artikulation eine Spritzigkeit, das Spiel eine Leichtigkeit, die dem Tanzcharakter in den Ritornell-Sätzen sehr entgegenkommt. Alleine durch das Benutzen der Bögen hat sich das Klangbild verschlankt, und ich benutzte als Konsequenz daraus auch ein sparsameres Vibrato. Durch diese Orientierung an der so genannten Originalklangbewegung unterscheidet sich die zweite Version stark von der aus den 1980er Jahren, die natürlich geprägt war vom Klangverständnis in dem wir damals gelebt haben. Ich glaube nicht an Dogmen in der Musik, sondern an eine vielfältige und sehr gründliche Recherche. Und letzten Endes ist jede Interpretation nur ein weiterer Versuch, einer Musik, die so komplex ist, einen Aspekt mehr abzugewinnen.

47. Grammy Verleihung in Los Angeles
Bild: dpa

Wobei die Komponisten oft gar nicht besonders gut eingeweiht sind in die technischen Möglichkeiten oder auch Herausforderungen des jeweiligen Instruments.

Ich denke viele Komponisten wie beispielsweise Beethoven haben sich, auf gut Deutsch gesagt, einen Dreck drum geschert, wie bequem oder unbequem etwas für den Interpreten ist. Deshalb ist es mir auch wichtig, dass ich einem Komponisten nicht vorab sage, was mir gut liegt. Ich möchte kein Hemmschuh für ihn sein, sondern ihm die Illusion geben, dass alles möglich ist. So haben Komponisten Jahrhunderte lang komponiert, und das ist auch richtig so. Denn es geht um die Musik im gesamten und nicht um den Komfortfaktor des Interpreten oder die Machbarkeit. Machbar ist alles, wenn man die Schwierigkeiten nur überwinden will. Und es ist ein wichtiger Teil beim Musizieren, weil das Überwinden von Schwierigkeiten eine innere Spannung aufbaut, die sich auch auf das Publikum überträgt.

Ebenfalls wichtig ist Ihnen die Förderung des musikalischen Nachwuchses, für den Sie extra die „Anne-Sophie Mutter Stiftung“ ins Leben gerufen haben? Was sind Ihre Ziele dabei?

Ich hege immer noch die Illusion und den großen Wunsch, dass wir wieder hineinfinden in eine musikalische Frühförderung, die für jedermann nicht nur bezahlbar sondern auch existent und zugänglich ist. Davon haben wir uns in den letzten Jahrzehnten einfach zu weit entfernt. Klassische Musik ist sicher nichts, was jeden anspricht und gleichermaßen in jedermanns Alltag seinen Platz findet. Auch weil sie des hingebungsvollen Zuhörens bedarf und mehr Zeit und Konzentration beansprucht als Musik, die rein für die Unterhaltung gedacht ist. Aber wenn wir unseren Kinder die Möglichkeit geben, sich früh über Musik auszutauschen, ihren Körper durch die eigene Stimme zu erforschen, ihre haptischen Fähigkeiten auf vielfältige Weise zu entwickeln, dann wird auch die sozial Fähigkeit, sich in Gruppen einzugliedern, respektvoll miteinander umzugehen, andere kulturelle Wurzeln zu achten, früh in das Leben eines Menschen gelegt. Über die Freude am Instrument hinaus wird mehr als nur das geschulte Ohr übrig bleiben. Und eines darf man nicht vergessen: Musik macht einfach irrsinnig Spaß.

Biographie

Anne-Sophie Mutter, 1963 in Rheinfelden (Baden) geboren, erhielt Geigenunterricht bei Erna Honigberger und Aida Stucki, beides Schülerin von Carl Flesch. Sie galt als musikalisches Wunderkind und trat als 13-Jährige erstmals mit Herbert von Karajan auf, der ihrer weltweiten Karriere den entscheidenden Anstoß gab. Ihre erste Einspielung für die Deutsche Grammophon machete Anne-Sophie Mutter mit 14. Seit 2002 ist die vielfach ausgezeichnete Künstlerin, die sich besonders für die zeitgenössische Violinmusik stark gemacht hat, mit dem Komponisten, Dirigenten und Pianisten André Previn verheiratet.

Aktuelle CD

Gubaidulina, Violinkonzert „In tempus praesens“; Bach, Violinkonzerte; London Symphony Orchestra, Valery Gergiev, Trondheim Soloists
DG/Universal CD 002894777450