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Politik

Antisemitismus in der EU weit verbreitet

12. Oktober 2021

Viele Juden verlassen Europa, weil sie sich zunehmend unsicher fühlen, beklagen jüdische Organisationen in Brüssel. Sie fordern mehr Unterstützung im Kampf gegen den Antisemitismus. Bernd Riegert berichtet.

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Polizei vor der Neuen Synagoge Berlin
Nur mit der Polizei: Wie die Neue Synagoge in Berlin müssen in Europa jüdische Einrichtungen oft geschützt werdenBild: picture-alliance/dpa/C. Soeder

"Ich war einmal in einer kleinen ungarischen Stadt in der Oberstufe einer Schule, um einen Vortrag über Juden in Ungarn zu halten. Der Schuldirektor warnte mich, dass die gerade 18 Jahre alt gewordenen Schüler fast alle 'Jobbik', eine offen antisemitische Partei, wählen wollten. Ich bin dann trotzdem da hinein und habe festgestellt, dass diese Schüler beim Wort Jude zuerst an ein Schimpfwort denken", erzählt Rabbi Slomo Köves aus Budapest. Köves ist für die jüdische "Aktions- und Schutzliga" in Ungarn unterwegs, um über das Leben der rund 100.000 ungarischen Juden heute aufzuklären und Vorurteile gerade bei jungen Menschen abzubauen. Er glaubt, mit seinen Präsentationen in Schulklassen durchaus etwas bewegen zu können. "Die meisten Schüler haben sehr viele Fragen, weil es immer noch so viele Vorurteile gibt." Slomo Köves glaubt festzustellen, dass sich die antisemitischen Ressentiments in seiner ungarischen Heimat über die Jahre langsam abbauen.

Slomo Köves
Rabbi Slomo Köves aus Budapest: Ich habe einen TraumBild: Bernd Riegert/DW

Allerdings trifft er auch noch Schüler, die ihn verzweifelt fragen, ob sie denn unbedingt Jude bleiben müssen, nur weil ihre Eltern Juden sind. Sie fühlen sich angefeindet. "Ich habe einen Traum", sagt Rabbi Köves, "und zwar dass kein Kind in Europa sich wegen seines Jüdischseins schämen oder ängstigen muss. Jeder sollte stolz auf seine Herkunft und Identität sein."

Antisemitismus in Europa weit verbreitet

Bis zur Verwirklichung dieses Traums ist es möglicherweise noch ein langer Weg, denn eine neue Studie der "European Jewish Association", einem europäischen Verbund jüdischer Gemeinden und Organisationen, zeigt deutlich, dass Antisemitismus in der EU auch 80 Jahre nach dem Holocaust noch tief verwurzelt ist - und sogar zunimmt.

Holocaust-Mahnmal: Baum des Lebens im jüdischen Viertel von Budapest
Jüdisches Viertel in Budapest: Das Holocaust-Mahnmal soll erinnern, aber erzielt es Wirkung?Bild: DW/M. Ostwald

Rabbiner Slomo Köves stellte diese Studie aus Anlass der Jahrestagung der europäischen jüdischen Verbände in Brüssel vor. Trotz aller negativen Tendenzen, die man aus der Befragung durch das Meinungsforschungsinstitut IPSOS von 16.000 Menschen in 16 EU-Mitgliedsstaaten herauslesen könne, gebe es auch einen Hoffnungsschimmer. Das Engagement der "Aktions- und Schutzliga" zeige, dass es in Ungarn so etwas wie eine Umkehr des Trends geben könne. Von 2006 bis 2013 war demnach mit dem Anwachsen der rechtsradikalen und -populistischen Parteien in Ungarn auch das Klima für Juden schlechter geworden. 2012 habe dann bessere Aufklärungsarbeit eingesetzt und seither würden die Vorurteile angegangen.

Die neue Studie zeige, dass sich Juden in Ungarn heute weniger bedroht fühlten als noch vor sieben Jahren. In Ungarn habe man ganz konsequent das Problem benannt, Erziehungs- und Aufklärungsprogramme entwickelt und gemeinsam mit staatlichen Stellen umgesetzt. "Dieses gute Bespiel sollte man auch in anderen EU-Staaten anwenden", meint der ungarische Rabbiner.

Regionale Unterschiede

"Antisemtische Vorurteile in Europa", so der Titel der aktuellen Studie, gebe es immer noch reichlich. Sie reichen von der "Weltverschwörung" über die angebliche Schuld der Juden an der Kreuzigung von Jesus Christus bis zu dem "zwielichtigen Geschäftsgebaren" von Juden. In 70 Fragen haben Wissenschaftler der Universität in Budapest die Haltung in europäischen Staaten gegenüber jüdischen Mitmenschen ermittelt. Am größten sind die Vorbehalte gegen Juden in Griechenland, Polen, Ungarn, der Slowakei und Rumänien. Die wenigsten Vorurteile wurden in Schweden, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich registriert.

Blick auf vier begehbaren Kuben der Ausstellung "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" in der Alte Synagoge Essen
Doppelleben: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland werden dieses Jahr gefeiert, gleichzeitig gibt es in Deutschland die meisten antisemitischen Angriffe in der EUBild: Roland Weihrauch/dpa/picture alliance

Deutschland liegt bei den meisten Fragen im Mittelfeld - allerdings gab es 2020 hier mit 59 die meisten gewaltsamen antisemitischen Übergriffe in der EU. Starken bis latenten Antisemitismus sehen die Verfasser der Studie in Griechenland, Polen und Österreich bei der Mehrheit der Bevölkerung. In Deutschland liegt der Wert bei 28 Prozent. In Schweden und den Niederlanden dagegen nur bei zehn beziehungsweise acht Prozent.

EU gefordert

Die Europäische Kommission hat erst in der vergangenen Woche in Brüssel ihre erste politische Strategie gegen Antisemitismus vorlegt, die unter anderem das Verbot des Handels mit Nazi-Memorabilien vorsieht. Außerdem soll der Kampf gegen antijüdische Hetze im Netz verstärkt werden. Nach den Daten der EU-Kommission sehen neun von zehn Juden in Europa Antisemitismus als ernstes Problem an.

Die Strategie der EU-Kommission könne nur ein erster Schritt sein, heißt es dazu von den jüdischen Verbänden bei ihrer Jahrestagung. Denn bislang erfassen nicht einmal alle EU-Mitgliedsstaaten antisemitische Attacken, von konkreten Gegenmaßnahmen ganz zu schweigen.

Exodus befürchtet

Joel Mergui steht als Präsident an der Spitze des "Israelitischen Konsistoriums" in Frankreich und vertritt sämtliche jüdische Gemeinden in Frankreich, das weltweit nach Israel und den USA die meisten jüdischen Einwohner hat. Mergui stellte vor der Presse in Brüssel bedauernd fest: "Die Juden verlassen Europa." Gerade junge Menschen würden nach Israel oder in die USA auswandern, weil sie sich nicht mehr sicher fühlten.

Joel Mergui gibt ein Interview
Joel Mergui, oberster jüdischer Funktionär Frankreichs: Die Juden verlassen EuropaBild: Bernd Riegert/DW

So gebe es in Frankreich in großen Städten inzwischen Zonen, in denen man sich als Jude nicht mehr bewegen sollte. "Diese verlorenen Zonen betritt aber auch die Polizei kaum noch", so Joel Mergui. Der französische Funktionär rief dazu auf, in der EU Antisemitismus nicht hinzunehmen, sondern dagegen zu kämpfen, nicht mit Resolutionen, sondern mit Taten. Es müsse ein Leben für Juden möglich sein, in dem Synagogen, Schulen, Kindergärten nicht ständig von Polizei bewacht werden müssten. "Daran haben wir uns leider schon gewöhnt, aber es ist nicht normal."

Jüdische Künstler in Deutschland

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union