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Argentinier schauen "La Bundesliga"

19. Mai 2020

Kaum ein Land auf der Welt ist so fußballverrückt wie Argentinien. Da die heimische Liga wegen der Corona-Pandemie ruht, greifen die Fans kurzerhand zu einer Ersatzdroge: Sie konsumieren stattdessen deutschen Fußball.

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argentinischer Sportjournalist Ezequiel Daray
Der argentinische Sportjournalist Ezequiel Daray berichtet seit Jahren über die deutsche BundesligaBild: Privat

Was macht eine Fußball-Nation, in der seit dem 16.März, dem Spiel zwischen Rosario Central und Colón, auf unbestimmte Zeit der Ball ruht? Eine Fußball-Nation, die so fanatisch ist, dass das Finale der Copa Libertadores zwischen River Plate und Boca Juniors aus Sicherheitsgründen im fernen Madrid stattfinden musste? Eine Fußball-Nation, in der Fans den Titel ihres Vereins mit dem Schädel des verstorbenen Großvaters feiern, damit der den einzigartigen Triumph auch miterleben kann?

Sie tut das, was man in der Not halt tut. In diesem Fall: "La Bundesliga" schauen.

Hohe Einschaltquoten für deutschen Fußball

Fußball ist für die Argentinier Leidenschaft, Religion und Droge zugleich. Und weil sie diese Droge auch am vergangenen Wochenende in Buenos Aires, Córdoba und Rosario nicht bekommen konnten, schalteten viele am Samstagmorgen die argentinischen Sportsender ESPN und Fox Sports ein und bewunderten das erste Corona-Tor von Dortmunds Stürmer Erling Haaland im Revierderby gegen Schalke bei einem Schluck Mate-Tee vor der Glotze. Die Einschaltquoten gingen durch die Decke: Bei ESPN waren sie zehnmal so hoch wie am Wochenende zuvor, als Fußball noch friedlich aus der Konserve lief.

"Von den 20 führenden Twitter-Trends am Samstag ging es bei 15 um die Bundesliga", bestätigt Ezequiel Daray das enorme Interesse in Argentinien am deutschen Fußball. Daray muss es wissen. Gäbe es diesen Posten, wäre der Sportjournalist Argentiniens Bundesliga-Botschafter. Kein Argentinier kennt sich so gut mit dem "futból alemán" aus wie der Mann aus Buenos Aires. Daray moderiert und produziert für Fox Sports seit Januar 2016 die TV-Sendung "Das Ligahaus" - 30 kompakte und kurzweilige Minuten vor jedem Bundesliga-Spieltag.

Bundesliga-Nachhilfe im argentinischen Fernsehen

"Wir haben mittlerweile 205 Episoden abgedreht. Und zeigen dort neben den Traditionen der Klubs und Spieler- und Faninterviews alles, was Deutschland ausmacht", sagt Daray, der sich dann unter die Feiernden beim Karneval in Köln mischt, eine Maß beim Münchner Oktoberfest trinkt oder aber in die Zechen im Ruhrgebiet hinabfährt.

Die Verbindung zum Fußball steht immer im Vordergrund, der Sportjournalist bringt seinen Zuschauern sogar in einer Rubrik sogar Fußballbegriffe wie Abseits und Fallrückzieher bei. "Mittlerweile ist mein Deutsch so gut, dass ich auch 'Mönchengladbach' unfallfrei aussprechen kann", berichtet der Argentinier mit einem Lachen.

Argentinische Stars spielen nicht in Deutschland

Weil Spitzenspieler wie Lionel Messi, Kun Aguero oder Paulo Dybala in Spanien, England oder Italien kicken, in der Bundesliga aber nur die zweite Garde wie die beiden Leverkusener Lucas Alario und Exequiel Palacios oder Santiago Ascacibar von Hertha BSC Berlin, ist das Interesse in Argentinien an der Bundesliga grundsätzlich niedriger. "In Spanien zum Beispiel liegt der Fokus auch viel mehr auf den Spielern, in Deutschland dagegen zählt der Klub und die Liga mehr", betont Ezequiel Daray.

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Leverkusens Lucas Alario lief bisher sieben Mal für Argentinien auf und erzielte dabei drei TrefferBild: Imago Images/U. Kraft

Für den Argentinier ist der deutsche Fußball ein Spiegelbild der Gesellschaft, eine einzigartige Kombination aus Ordnung und Leidenschaft. "Wir Lateinamerikaner denken ja bei den Deutschen immer an den Ingenieur aus Stuttgart, der um 8 Uhr abends ins Bett geht und den ganzen Tag arbeitet. Aber wir haben gemerkt, dass das nicht so ist, und dies versuchen wir auch, in unserer Sendung zu zeigen."

Anders als das Klischee vom "Deutschen"

Natürlich sei der Deutsche ordentlich, diszipliniert und sparsam, aber gleichzeitig auch leidenschaftlich und jederzeit bereit, viel Geld auszugeben für etwas, für das er Feuer fängt. Das Fazit des Argentiniers: "Der Fußball hier vereint die einzigartige Infrastruktur der Stadien, die exzellente Organisation durch die Deutsche Fußball-Liga und die verrückten und frenetischen Fans, die sich fantastische Choreografien ausdenken und ihren Verein 90 Minuten lang nach vorne peitschen."

Nicht nur Fox Sports machte vor dem Bundesliga-Spieltag, der in sage und schreibe 211 Länder übertragen wurde, mächtig Werbung für den deutschen Fußball. Auch die größten Tageszeitungen wie "Clarín" und "La Nación" oder das Online-Portal "Olé" trommelten für Manuel Neuer, Mats Hummels, Timo Werner und Co.

Interesse nicht nur bei Top-Spielen

Der argentinische Sportjournalist Eduardo Eschoyez ließ sich gerne mitreißen. Zum einen berufsbedingt, weil er seit 34 Jahren über die beiden größten Fußballklubs in Córdoba, Talleres und Belgrano, mit allen Details berichtet und den Fußball liebt. Aber auch, weil Eschoyez sehen wollte, wie die Deutschen das wohl mit dem Fußball in Zeiten von Corona hinbekommen.

argentinischer Sportjournalist Eduardo Eschoyez
"Durch den Kontakt können sich die Spieler natürlich trotzdem anstecken" - Eduardo EschoyezBild: Privat

"Der jetzige Fußball rollt ja vor allem wegen finanzieller Interessen, die TV-Rechte bestimmen über das Spiel", erklärt Eschoyez, der Anblick der Leere war allerdings auch für ihn mehr als gewöhnungsbedürftig. "Ein Stadion ohne Zuschauer ist natürlich außerordentlich kalt. Aber es ist doch so: Einerseits sind zwar keine Zuschauer auf den Tribünen, andererseits hat sich das virtuelle Interesse mit Millionen vor den Bildschirmen multipliziert."

Und so erzielt in Corona-Zeiten selbst eine Partie aus der unteren Tabellenhälfte wie Köln gegen Mainz, die sonst nur die wenigsten Argentinier hinter dem Ofen hervorlocken würde, fantastische Einschaltquoten. Und sogar die 2. Bundesliga flimmert in diesen Tagen über die Bildschirme der argentinischen Wohnzimmer.

Blaupause Deutschland

Wie viele Argentinier schätzt Eduardo Eschoyez das hohe Niveau der Bundesliga, die perfekte Infrastruktur und den respektvollen Umgang der Fans - in Argentinien dürfen die Auswärtsfans seit 2013 nach Dutzenden Toten nur mit wenigen Ausnahmen zu den Spielen im fremden Stadion pilgern. Vom deutschen Fußball angesteckt wurde Eschoyez durch die Fußball-Weltmeisterschaft 1974, sagt er: "Meine Mutter hat sich erschrocken, weil ihr neunjähriger Sohn lieber Stunden vor dem Fernseher verbringen wollte als draußen mit den anderen Kindern zu spielen."

Präsident argentinischer Fußballverband AFA | Claudio Tapia
Claudio Fabián Tapia, Präsident des Argentinischen Fußball-Verbandes AFABild: picture-alliance/AP Photo/D. Jayo

Auch die verbliebenen acht Spieltage der Bundesliga werden wohl zum Quotenrenner in Argentinien werden. Der argentinische Fußballverband AFA hat die eigene Saison nämlich in allen Kategorien für beendet erklärt. Spekuliert wird noch mit einer Rückkehr zum Spielbetrieb im August oder September, obwohl sich der Tourismus- und Sportminister Matías Lammens jüngst für eine Wiederaufnahme der Superliga in den Provinzen stark machte. Denn 90 Prozent der Corona-Infektionen treten im Großraum Buenos Aires auf.

Doch die Blaupause Deutschland für Fußball in Corona-Zeiten wird in Argentinien in einem Punkt sowieso nicht funktionieren, da ist sich Eschoyez sicher: "Die Leidenschaft hier ist so groß, dass die Fans sich scharenweise vor den Stadien versammeln werden. Und das natürlich, ohne den nötigen Abstand zu wahren."