1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Gesellschaft

Argentinien: Rechtsstaat oder Gnadenakt?

6. Mai 2017

Argentiniens Oberstes Gericht hat einem Folterknecht der Militärdiktatur vier Jahre Haft erlassen. Opfer und Angehörige sind entsetzt, Juristen uneins. Die Opposition macht die Regierung für das Urteil verantwortlich.

https://p.dw.com/p/2cWkG
Argentinien human rights Proteste in Buenos Aires
Demo gegen das Urteil in Buenos Aires: "Kein Vergessen, keine Vergebung, keine Versöhnung - 1000 Jahre Gefängnis"Bild: picture alliance/dpa/AP Photo/R. Caivano

2011 wurde Luis Muiña wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 13 Jahren Haft verurteilt. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass er sich am Staatsterror der Militärjunta beteiligt hatte, die Argentinien zwischen 1976 und 1983 regierte. Historiker schätzen, dass die Schergen der Militärs rund 30.000 Menschen ermordeten oder verschwinden ließen. Mehrere Zeugen identifizierten Muiña als Mitglied einer para-polizeilichen Einheit, die mutmaßliche Regimegegner entführte, folterte und ermordete.

Nun ist Muiña auf freiem Fuß, nach nur neun Jahren im Gefängnis. Das Oberste Gericht hat seinem Antrag auf Haftverkürzung in letzter nationaler Instanz stattgegeben. Der Aufschrei ist besonders groß, weil mehrere Hundert verurteilte Schergen der Militärjunta von dem Urteil profitieren und ebenfalls eine Verkürzung ihrer Haft erwirken könnten. Bereits einen Tag nach dem Urteil gingen weitere Anträge auf vorzeitige Freilassung unter Berufung auf dasselbe Gesetz ein.

Opferverbände haben zu Demonstrationen aufgerufen. Gladys Cuervo, die Muiña vor Gericht als ihren Peiniger identifizierte, hat angekündigt, den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen.

Regierung beruft sich auf Gewaltenteilung

Argentiniens Regierung gibt sich zerknirscht über das Urteil. Nach einer eilig einberufenen Kabinettssitzung schickte Präsident Mauricio Macri seinen Justizminister Germán Garavano vor, der erklärte, dass die Regierung das Urteil des Obersten Gerichts nicht in Frage stelle. Gleichwohl sei man sich einig, dass das Gesetz, das die Haftverkürzung ermöglicht hat, ganz allgemein abgeschafft werden müsse - erst recht, wenn es um Verbrechen gegen die Menschlichkeit ginge.

Uruguay Argentinischer Justizminister German Garavano
Respektiert das Urteil, will aber die Gesetze ändern: Justizminister Germán GaravanoBild: picture alliance/dpa/EPA/J. I. Mazzoni

Gerardo Milman, Staatssekretär für innere Sicherheit, drückte das im Nachrichtensender "La Nación +" so aus: "Wir wollen das Gerichtsurteil nicht diskutieren, denn eines der Probleme in Argentinien war ja gerade der Mangel an Gewaltenteilung".

Opposition macht Stimmung

Das will die Opposition so nicht stehen lassen: Fernando "Pino" Solanas, Senator und Vorsitzender der linken Partei "Proyecto Sur", macht die Regierung verantwortlich für das Urteil: "Es ist nicht nur eine juristische Frage, dieses Urteil ist die logische Fortsetzung von Macris bisheriger Politik."

Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner will einen Rückschritt beim Thema Menschenrechten um 20 Jahre erkennen: "Es fühlt sich an, als würden die Verschwundenen ein zweites Mal verschwinden", sagte sie vor Mitgliedern einer Lehrergewerkschaft und rief die Gesellschaft auf, sich zu wehren: "Wenn die Regierung das (Gesetz) ändern kann, und das Volk es ihnen gestattet - was glaubt Ihr, werden sie mit anderen Rechten tun?"

Haltlose Vorwürfe

Beweise oder auch nur schlüssige Indizien für ihre Vorwürfe bleibt die Opposition jedoch schuldig. So verweisen sie darauf, dass Macri zwei der drei Richter, die der Haftverkürzung zustimmten, kurz nach seinem Amtsantritt Ende 2015 berufen hatte, nachdem zwei der fünf Stühle des Obersten Gerichtshofs aus Altersgründen frei geworden waren.

Argentinien Nestor Kirchner und Horacio Rosatti
Ex-Präsident Néstor Kirchner mit seinem damaligen Justizminister Horaco Rosatti, heute Oberster RichterBild: picture-alliance/dpa/dpa/EPA/Presidencia de Argentina

Was Macris Gegner nicht erwähnen: Die Opposition hält 55 der 72 Sitze im Senat, der in Argentinien die Berufung bestätigen muss. Neben den 17 Regierungs-Senatoren stimmten jeweils auch zwei Drittel der Oppositionsvertreter für die fraglichen Richter. Einer von beiden, Horacio Rosatti, stammt aus dem Oppositionslager, war von 2004 bis 2005 Justizminister unter dessen Präsident Néstor Kirchner und erhielt 2016 im Senat eine Rekordzustimmung von 60 der 72 Stimmen für seine Berufung zum Obersten Richter. Das dritte Ja zu Muiñas Haftverkürzung kam von einer Richterin, die ebenfalls Néstor Kirchner berufen hatte.

"Juristisch einwandfrei"

Auch Cristina Kirchners Vorwurf, die Regierung habe Gesetze geändert, um die "Straflosigkeit" zu ermöglichen, läuft ins Leere. Denn das sogenannte Zwei-für-eins-Gesetz, kurz: 2x1, das dem Urteil zugrunde liegt, war lediglich zwischen 1994 und 2001 in Kraft: Demnach wird Verurteilten, die für die zulässige Höchstdauer von zwei Jahren in Untersuchungshaft gesessen haben, jeder weitere Hafttag doppelt angerechnet, wodurch sich ihre Haftstrafe ab dem zweiten Jahr halbiert.

Argentinien ehemaliger General Reynaldo Bignone vor Gericht
Luis Muiña (M.) und General Reynaldo Bignone (l.) 2011 vor GerichtBild: picture alliance/dpa/EPA/L. La Valle

Auf dieses Gesetz haben sich bereits mehrere verurteilte Militärschergen berufen. Luis Muiña ist nun der erste, der damit in letzter Instanz Recht bekam. Strittig war bisher, ob das Gesetz auch bei Verstößen gegen Menschenrechte anwendbar sei. Dies bezweifelten auch zwei der drei Obersten Richter. Die drei anderen jedoch begründeten ihr Urteil damit, dass es in dem fraglichen Gesetz keinerlei Hinweis auf diese Ausnahme gegeben habe.

Francisco Castex, Professor für Strafrecht an der Universität von Buenos Aires, kommt deshalb zu dem Schluss: "Juristisch ist das Urteil einwandfrei."

Rechtstaat gegen Barbarei

Dass das längst abgeschaffte Gesetz heute überhaupt noch Relevanz hat, erklärt Castex damit, dass Verurteilte sich auf jedes Gesetz berufen können, das zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen Tat und Urteil in Kraft war. "Das mag einem gefallen oder nicht", sagt Castex, "aber es ist ein international gültiger Rechtsgrundsatz, an dem es nichts zu rütteln gibt." In Deutschland ist das Prinzip der "milderen Strafe", des "Lex mitior", in § 2 Abs. 3 des Strafgesetzbuchs geregelt.

Genau wie Castex ließen auch die drei Richter durchblicken, dass sie mit den Folgen ihres Urteils nicht gerade glücklich sind: "Ein Rechtsstaat bekämpft die Barbarei nicht, indem er von der juristischen Ordnung abweicht", kommentierte Richter Horacio Rosatti seine Entscheidung, "sondern indem er die Rechte und Garantien respektiert, die für alle eingeführt wurden, selbst für diejenigen, die wegen abscheulicher Verbrechen verurteilt wurden."

Jan Walter Autorenfoto
Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.