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Schüler auf den Barrikaden

16. September 2010

Baufällige Gebäude, schlechte Ausstattung, keine Heizung – Argentiniens Bildungseinrichtungen sind in einem fatalen Zustand. Schüler, Studenten und Lehrer streiken und besetzen Gebäude. Buenos Aires steht Kopf.

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In this photo taken Sept. 8, 2010, a classroom sits empty at a pubic university as a form of protest by students in Buenos Aires, Argentina. Several public universities and schools of the nation's capital city have been taken over by students to ask city's government for the repair of run-down damaged educative centers. (AP Photo/Natacha Pisarenko)
Leere Klassenräume in mehr als 20 Schulen in Buenos AiresBild: AP

Not macht erfinderisch: Weil in den Klassenräumen der UBA, der Nationalen Universität von Buenos Aires, bald die Decke herunter zu kommen scheint, haben Studenten ihr Lager auf dem Parkplatz davor aufgeschlagen, ganze Seminare werden unter freiem Himmel abgehalten. Die UBA hat sich dem Streik der Oberschüler angeschlossen. Hunderte Schüler der Oberstufe halten seit einigen Wochen ihre Schulen teilweise besetzt. Inzwischen findet in mehr als zwanzig Schulen kein oder nur reduzierter Unterricht statt.


Dazu kommen nun vier Fakultäten der UBA, darunter die zwei größten Institute für Sozialwissenschaften, Philosophie und Literaturwissenschaften. Protestiert wird gegen die Bildungsmisere in einem Land, das einst bis nach Europa für sein ausgezeichnetes Bildungssystem berühmt war.

Hungerlohn für Lehrer

In this photo taken Sept. 8, 2010, students attend class in a street outside a pubic university as a form of protest in Buenos Aires, Argentina. Several public universities and schools of the nation's capital city have been taken over by students to ask city's government for the repair of run-down damaged educative centers. (AP Photo/Natacha Pisarenko)
Straßen-Seminar: Protestaktion der UBABild: AP

Da ist zum einen der schlechte Zustand der Gebäude: "Der Putz kommt von den Wänden, das Licht geht nicht, es gibt keine Heizung", erklärte Alejandro Lipcovich, Präsident des Studenten-Verbands von Buenos Aires (FUBA) gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. Dazu kommt die veraltete Ausstattung und die schlechte Bezahlung des Lehrpersonals: Im Durchschnitt verdienen Lehrer in Buenos Aires 1.900 Pesos pro Monat (400 Euro). Zum Vergleich: Die Lebenshaltungskosten in Buenos Aires sind inzwischen fast so hoch wie in Berlin.

"Wir fordern, insgesamt den Haushalt für Bildung anzuheben. In keiner Region Argentiniens wird so wenig für Bildung ausgegeben wie in Buenos Aires", erklärte Eduardo López von der Bildungsgewerkschaft (UTE) gegenüber der Tageszeitung Clarín. Und nun streiken in Buenos Aires auch noch die Lehrer – zum 18. Mal seit Mauricio Macri von der konservativen PRO-Partei Ende 2007 das Bürgermeisteramt übernommen hat.

Privat statt staatlich

Der Haushalt für Bildung wurde in der Amtszeit der Macri-Regierung kontinuierlich heruntergefahren. Knapp 150 Millionen Peso (30 Millionen Euro) - weniger als die Hälfte des Etats von 2008 wird heute für Baumaßnahmen im Bildungsbereich investiert. In den letzten zwei Jahren sanken die sonstigen Bildungsausgaben zwar insgesamt nur um 2, 2 Prozent, allerdings stieg der Anteil für Privatschulen daran um fast 170 Prozent im Vergleich zu 2008: "Bildung privatisieren, statt in staatliche Bildung für alle zu investieren. Privatisierung, Kommerzialisierung, Ausgrenzung – das ist Macris Politik", steht an Wänden der Fakultäten und auf Transparente gepinselt.

In this photo taken Sept. 8, 2010, Ignacio Rocca studies outside a pubic university as a form of protest in Buenos Aires, Argentina. Several public universities and schools of the nation's capital city have been taken over by students to ask city's government for the repair of run-down damaged educative centers. (AP Photo/Natacha Pisarenko)
Die Nationale Universität von Buenos Aires (UBA) - der Macri-Regierung ein Dorn im Auge?Bild: AP

Die Stadtverwaltung hat inzwischen zwei "Infrastruktur-Pläne" vorgelegt, um auf die Proteste der Schulen zu reagieren. Beide wurden als unzureichend abgelehnt. Derzeit diskutiert das städtische Bildungsministerium darüber, wie die per Lehrplan vorgeschriebenen 180 Tage Unterricht trotzdem eingehalten werden können – aller Voraussicht nach werden für manche Schulen die Ferien diese Jahr zehn Tage später, am 30. Dezember, beginnen.

Politische Krise

Die Krise hat sich mittlerweile zu einem Machtkampf zwischen Stadt- und Provinzregierung, der nationalen Regierung und dem Studenten-Verband ausgeweitet. Der oppositionelle Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Francisco de Narváez, kritisierte die protestierenden Schüler und ihre Schul-Besetzungen als "unverantwortlich gegenüber sich selbst und der Stadtregierung." Präsidentin Cristina Kirchner hatte am Dienstag (14.09.2010) für Polemik gesorgt: "Die Forderungen der Schüler scheinen mir nicht unangebracht oder übertrieben", sagte sie mit Blick auf die Streikenden. Ihr Sprecher Aníbal Fernandez betonte zudem, dass das Problem von der Stadtregierung selbst gelöst werden müsse.

Daraufhin warf die oppositionelle PRO-Fraktion der Stadtregierung Kirchner Opportunismus vor und beschuldigte den Studenten-Verband, die Schüler gegen eine gemeinsame Lösung im Streit zu mobilisieren. "Gegen sie versagt jede Politik. Denn wir hatten ja im gemeinsamen Dialog mit den Schulen bereits Lösungen gefunden", sagte der städtische Kabinettschef Horacio Rodríguez Larreta. Kurz: Buenos Aires steht mal wieder Kopf.

Erinnerung an die Diktatur

Madre de Plaza de Mayo Nora Cortiñas, Bilder von Verschwundenen, Gerichtsgebaeude Comodoro (Foto: Victoria Eglau)
Leerstellen - Bilder von VerschwundenenBild: DW/ Victoria Eglau

Für heftige Kritik sorgte die Ankündigung des städtischen Bildungsministeriums, so genannte "Schwarze Listen" mit dem Namen jener Schüler anzufertigen, die die Proteste anführen. "Das erinnert uns an das dunkelste Kapitel der argentinischen Geschichte", schreiben mehrere Schüler- und Studentenorganisationen auf einem gemeinsamen Flyer. Damit nehmen sie Bezug auf die so genannte "Noche de los Lápices – die Nacht der Bleistifte". Vor genau 39 Jahren, am 16. September und den folgenden Nächten wurden in der Stadt La Plata, der Hauptstadt der Provinz Buenos Aires, zehn Schüler der Oberstufe verschleppt. Es waren die ersten Monate der Militärdiktatur unter der Junta von General Videla. Die Schüler hatten Monate zuvor in friedlichen Protesten für die Einführung eines Studentenausweises demonstriert. Nur vier der Verschleppten tauchten später wieder auf – alle anderen bleiben bis heute "Verschwundene". Darunter die damals 16-jährige María Claudia Falcone, deren Mutter zu einer der Mitbegründerinnen der Mütter der "Plaza de Mayo" wurde.

Zum Jahrestag, am Donnerstag (16.09.2010), marschieren nun Schüler, Studenten und Lehrer in einem nationalen Protestmarsch vom Kongressgebäude bis hin zum Regierungssitz, der Casa Rosada an der Plaza de Mayo. "Die Bleistifte werden weiter schreiben!", steht auf vielen Transparenten. Buenos Aires Regierungschef Mauricio Macri selbst wird sie allerdings nicht sehen: Er tourt gerade durch Europa, "um neue Investitionen für Buenos Aires zu gewinnen", wie es aus dem Bürgermeisteramt heißt.

Autorin: Anne Herrberg
Redaktion: Oliver Pieper