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Armes reiches Deutschland

14. November 2017

Gute Konjunktur, boomende Wirtschaft – eigentlich müssten die meisten Deutschen besonders wohlhabend sein. Sind sie aber nicht. Die Gefahr zu verarmen, sei sogar vergleichsweise hoch, meint die Hans-Böckler-Stiftung.

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Symbolbild Armut - Flaschensammler
Bild: picture-alliance/dpa/W. Steinberg

Ein Gedankenspiel: Angenommen, das Einkommen fällt weg, weil man so krank wird, dass man nicht mehr arbeiten kann. Eine Berufsunfähigkeitsversicherung wurde, weil man sich diese finanziell nicht leisten konnte oder wollte, nie abgeschlossen. Erwerbsminderungsrente kommt auch nicht in Frage. Ein anderer Fall: Das Rentenalter ist erreicht, die staatliche Rente ist aber so gering, dass man davon nicht leben kann. Eine private Altersvorsorge existiert nicht.

Wem das passiert, dem droht unweigerlich der finanzielle Abstieg. Die soziale Sicherung greift erst, wenn man kaum noch etwas auf der hohen Kante hat, also eigenes Vermögen, soweit vorhanden, aufgebraucht hat. Wenn dann schließlich Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe bezogen werden kann, liegt man rein rechnerisch bereits unterhalb der Armutsgrenze.

Deutsche Vermögen reichen nicht lange

Das wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hat das Gedankenspiel zur Grundlage seines aktuellen Verteilungsreports gemacht. Wie lange kann sich ein deutscher Haushalt mit seinem Vermögen über Wasser halten, bis nichts mehr da ist? Das Ergebnis: Ein Drittel der Haushalte haben maximal Rücklagen für einige Wochen oder wenige Monate. Haushalte am oberen Ende der Vermögensskala könnten hingegen ohne weiteres Einkommen rein rechnerisch mindestens zwei Jahrzehnte durchhalten.

Symbolbild Reichtum Champagner Flaschen
Wie lange das Geld reicht, hängt auch von den Ausgaben abBild: picture-alliance/dpa/J. Kalaene

Das aber betrifft die wenigsten. Vermögen sind in Deutschland sehr ungleich verteilt. Zehn Prozent der Bevölkerung besitzen 60 Prozent der Vermögenswerte. Die unteren 50 Prozent der Bürger besitzen gerade einmal 2,4 Prozent. Dazu kommt ein Ost-West-Gefälle: Ostdeutsche Haushalte würden mit ihrem Vermögen nur halb so weit kommen wie westdeutsche. Ältere Bürger haben zwar im Mittel mehr Polster, aber auch bei ihnen ist jeder fünfte Haushalt unbedingt aufs laufende Einkommen angewiesen. Alleinerziehende haben besonders geringe Möglichkeiten, Einkommensausfälle über Vermögen auszugleichen

Die Deutschen sind die ärmeren Europäer

Deutschland sei "vermögensarm", gerade in den unteren Einkommensgruppen, sagt Anke Hassel, die wissenschaftliche Direktorin des WSI. Das liegt unter anderem daran, dass die Bundesrepublik ein "Mieter-Land" ist. Nur etwa 40 Prozent der Menschen wohnen im eigenen Haus. Dagegen besitzen beispielsweise 70 bis 80 Prozent der Italiener und Spanier Immobilien, die zum Teil erhebliche Wertsteigerungen erfahren haben. "In anderen Ländern können insbesondere über Immobilienerwerb auch Menschen in unteren Einkommensgruppen bestimmte Vermögenswerte aufbauen", so Hassel.

Infografik Einkommensgrenzen in Deutschland
Einkommen: Wer gilt als arm, wer als reich in Deutschland?

Das gilt in Europa offenbar für viele Länder. Zwar ist die Bundesrepublik der wirtschaftliche Motor Europas. Konjunktur und Wirtschaft boomen, die Arbeitslosigkeit geht immer weiter zurück. Trotzdem besitzt laut einer Studie der Europäischen Zentralbank die Hälfte der deutschen Haushalte nach Abzug von Schulden null bis höchstens 60.000 Euro. In Zypern und Italien liegt das mittlere Vermögen bei 170.000 beziehungsweise knapp 150.000 Euro. Franzosen kommen auf knapp doppelt so viel wie die Deutschen. Selbst Portugal und Griechenland weisen einen höheren Wert auf als die Bundesrepublik.

Leben in wirtschaftlicher Unsicherheit

Schaut man sich die 50 Prozent der Deutschen genauer an, die laut der Hans-Böckler-Stiftung nicht in der Lage sind, nennenswertes Vermögen zu bilden, dann ergeben sich zwei Untergruppen. Zum einen die unteren zwanzig Prozent der Bevölkerung, die von sozialen Sicherungsleistungen wie Arbeitslosengeld und Sozialhilfe leben, oder die gesetzliche Mindestrente beziehen. Sie gelten gemeinhin als "arm". Weitere dreißig Prozent, die sogenannte "untere Mittelschicht" arbeiten in der Regel Vollzeit, haben aber trotzdem so ein niedriges Einkommen, dass sie in einer permanenten materiellen Unsicherheit leben.

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Die Einkommen sind in Deutschland nur langsam gestiegen

Menschen beispielsweise, die im Niedriglohnsektor beschäftigt sind. Laut einer Auswertung der Bundesagentur für Arbeit arbeiten inzwischen mehr als zwei Drittel der Beschäftigten in der Gastronomie, in Friseursalons und der Leiharbeitsbranche trotz Vollzeitstelle zu einem Niedriglohn. Sie verdienen also weniger als zwei Drittel des mittleren Einkommens in Deutschland. Ende 2016 waren das in Ostdeutschland 1.673 Euro, in Westdeutschland 2.176 Euro. Spätestens am Ende des Berufslebens lauert dann die Armutsfalle.

Immer mehr arme Rentner

Angesichts eines stetig sinkenden Rentenniveaus warnt Anke Hassel vor einer tickenden Zeitbombe: "Wenn wir auf der einen Seite die Absenkung des Rentenniveaus haben und auf der anderen Seite eine Vermögensarmut in der unteren Mittelschicht, dann bekommen wir große soziale Probleme." Es sei inzwischen erwiesen, dass "die untere Hälfte der Gesellschaft" nicht zusätzlich privat für das Alter vorsorge. "Das findet nicht statt", so Hassel.

Wenn das Geld nicht reicht

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung fordert daher eine Reform des Sozialsystems. Nötig seien eine auf untere und mittlere Einkommensgruppen zugeschnittene staatliche Förderung zur Tilgung von Immobilienkrediten. In Ballungsgebieten müsse zudem stärker in den öffentlichen Wohnungsbau investiert werden. Das WSI empfiehlt aber auch, das Schonvermögen auszubauen, also den Teil der privaten  Rücklagen zu erhöhen, den man trotz Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe nicht antasten muss.

"Das bedeutet, dass man die sozialen Sicherungssysteme armutsfest machen und das fehlende Vermögen kompensieren muss", betont Direktorin Hassel. "Materielle Unsicherheit führt durchaus zu populistischen Einstellungen, auch zur Unterstützung der AfD", zitiert sie aus einer Studie des WSI. "Man muss sich um diese Gesellschaftsgruppe kümmern und sich mit den wirtschaftlichen Problemen auseinandersetzen."