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Geschichte der Armut

27. Juni 2011

Zu jeder Gesellschaft gehören Arme. Wie aber mit ihnen umgegangen wurde, das war einem ständigen Wandel unterworfen. Auch heute ist das Thema Armut noch brandaktuell. Das zeigen zwei Ausstellungen in Trier.

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Armut - Perspektiven in Kunst und Gesellschaft . Sonderausstellung vom 10. April - 31. Juli 2011. Museum Trier. Albrecht Wild: Sitzender, 2008 Besitz des Künstlers © Albrecht Wild
Albrecht Wild: SitzenderBild: Albrecht Wild

Diesen Anblick kennt wohl jeder Großstädter: ein Obdachloser wühlt in einem Mülleimer auf der Suche nach Essensresten. Fernsehbilder zeigen beinahe täglich Menschen auf der Flucht von Nordafrika nach Europa. Die Debatte um Arbeitslose und den Missbrauch von Sozialleistungen reißt nicht ab. Keine Frage, das Thema Armut ist heute noch genauso brisant wie vor Tausenden von Jahren. Was sich allerdings geändert hat, ist die Sichtweise auf Arme. In einer großen Sonderausstellung in Trier zeigen das Stadtmuseum Simeonstift und das Rheinische Landesmuseum, wie sich der Umgang mit Armut im Laufe der vergangenen 3000 Jahre in Europa gewandelt hat.

Arme als Witzfiguren

Grotesker Flötenspieler, Römisch, Ende des 3. oder Anfang des 4. Jh. n. Chr., Trier, Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Direktion Rheinisches Landesmuseum © Rheinisches Landesmuseum Trier, Foto: Thomas Zühmer
FlötenspielerBild: Rheinisches Landesmuseum Trier

Dem Thema "Armut in der Antike" widmet sich das Rheinische Landesmuseum. Archäologische Funde aus Griechenland, Ägypten und dem Römischen Reich dokumentieren, dass Armut in der damaligen Zeit als verabscheuungswürdig und selbstverschuldet galt. Und als Grund, darüber zu spotten. "Arme wurden als lustige Zwerge dargestellt, die mit Affen spielten, die genauso groß sind wie sie selbst oder als Leute, die körperliche Missbildungen haben, nicht dem gesunden Idealbild entsprachen und deshalb auf der Straße landeten", sagt Frank Unruh, der die Besucher durch die Ausstellung führt. Wohlhabende Bürger hätten diese Figuren aus Bronze anfertigen lassen, um sie als Dekostücke in ihrer Umgebung aufzustellen. "Man kann sich die Gesellschaft in dieser Hinsicht nicht krass genug vorstellen", so das Fazit des Archäologen. Höhepunkt der Sektion "Armut in der Antike" ist allerdings eine lebensgroße Figur, die eine betrunkene alte Frau zeigt. Ihre Arme umklammern einen Weinkrug – die Szene eines antiken Weinfestes, zu dem Herrscher einluden und sich darin gefielen, "mildtätig" auch Arme daran teilnehmen zu lassen. Die lebensgroße Figur löst bei den Betrachtern Betroffenheit aus, denn im Fokus stehen hier nicht die Armen und ihre Lebensumstände, sondern der gnadenlose Umgang der abendländischen Kultur mit ihnen.

Das Bild von Armut

"Perspektiven in Kunst und Gesellschaft" – so lautet der Untertitel der Ausstellung. Sie basiert auf einem umfangreichen interdisziplinären Forschungsprojekt der Universität Trier zum Thema "Fremdheit und Armut". Wissenschaftler aus den Fächern Geschichte, Kunstgeschichte, Recht und Soziologie haben sich seit 2002 in einem Sonderforschungsbereich mit aktuellen Fragen des Umgangs und der Solidarität mit den Armen heute beschäftigt. Migration, Globalisierung und die Hinterfragung sozialer Netze sind zu einem zentralen Feld öffentlicher Diskussion geworden.

Armut in der Kunst

Katharina Fritsch, Bettlerhand, 2007, Göhren, Rolf Leier, Courtesy www.fiftyfifty-galerie.de © Foto: Michael Ondruch / VG Bild-Kunst, Bonn 2011
Katharina Fritsch "Bettlerhand"Bild: Michael Ondruch / VG Bild-Kunst, Bonn 2011

Im Stadtmuseum Trier ist der Hauptteil der Ausstellung zu sehen. Hier sind rund 160 Exponate vom Mittelalter über die Zeit des Barock bis hin zur Gegenwart ausgestellt: Gemälde, Skulpturen, Fotoarbeiten und Installationen aus mehr als 40 europäischen Museen zum Thema "Armut" wurden hier zusammen getragen, darunter Werke von Pieter Brueghel, Max Liebermann, Karl Hofer und Pablo Picasso. Die Gegenwartskunst ist vertreten mit Karin Powser, Christoph Schlingensief und Albrecht Wild. Die Ausstellung folgt nicht der Chronologie, sondern ist in fünf "Perspektiven" unterteilt, in verschiedene Sichtweisen auf das Thema "Armut". Das sind die "Dokumentation", der "Appell" und die Bereiche "Ideal", "Stigma" und "Reform". Jeder Perspektive ist eine Wandfarbe zugeordnet, die die Orientierung und thematische Einordnung der Kunstwerke erleichtern soll. Die Exponate zeigen den langen Weg von der Verachtung der Armen bis zur Anerkennung ihrer Würde und ihr Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Zusammenleben.

Kunst als Appell

Pieter Brueghel d.J.: Die Sieben Werke der Barmherzigkeit, zwischen 1616 und 1638, Öl auf Holz, 43,3 x 57 cm, Museum der Brotkultur, Ulm
Pieter Brueghel d.J.: Die Sieben Werke der BarmherzigkeitBild: Rheinisches Landesmuseum Trier

Seit der Verbreitung des Christentums gelten Arme als zur Gesellschaft dazu gehörig, Barmherzigkeit wird zur Pflicht. Exponate wie das großformatige Gemälde von Hans und Paul Vredeman de Vries "Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit" aus den Jahren 1594/95 , die Altartafel "Mantelteilung" aus dem Jahr 1502 oder Pieter Brueghels "Die sieben Werke der Barmherzigkeit" verbildlichen die Fürsorgepflicht für Arme. Im 20. Jahrhundert tritt dann die Verantwortung für die Armen in den Vordergrund. "Hier haben wir überwiegend Arbeiten aus den 1920er Jahren, z.B. von Max Beckmann, Käthe Kollwitz, Ernst Barlach", erklärt Sonja Mißfeldt vom Trierer Stadtmuseum. "Alles Künstler, die sich sehr sozialkritisch mit dem Thema Armut auseinander gesetzt haben. Sie hinterfragen die vermeintlich goldenen 20er Jahre und zeigen auf, dass es nicht allen in dieser Zeit gut gegangen ist." Zu den Werken gehören die Lithografie "Der Hunger" von Max Beckmann, Ernst Barlachs "Hungergruppe" oder auch Spendenplakate, die zur Hilfe aufrufen.

Fremde und Armut

Die Auffassung, dass Armut eigenes Verschulden sei und man Fremden und Hilfsbedürftigen mit Misstrauen begegnen sollte, ist so aktuell wie nie zuvor. In der Perspektive "Stigma" geht es um solche Ausgrenzungen – hier sind Karikaturen zu sehen, die zeigen, wie bestimmte Bevölkerungsgruppen, aber auch fremde Religionsgemeinschaften stigmatisiert worden sind. Eine "Zigeunerwarntafel" aus dem 17. Jahrhundert sollte Zigeuner davon abhalten, die Grenze einer Stadt zu überschreiten, in der sie nicht willkommen waren. Sonja Mißfeldt: "Fremdheit bedeutete schon immer ein größeres Armutsrisiko."

Auch die Frage, wie Missbrauch verhindert werden könne und Hilfe tatsächlich dort ankomme, wo sie benötigt werde, sei Thema der Ausstellung, erklärt die Kuratorin."Es ist schon immer so gewesen, dass man Leuten mehr vertraut hat, die man auch gekannt hat, denen wollte man eher helfen." Wenn jemand fremd gewesen sei, hätten die Bürger mehr Bedenken gehabt, ob der Arme lüge, ob er wirklich so hilfsbedürftig sei wie er vorgebe. "Das ist ein hochaktuelles Thema, und es ist offensichtlicht schon ein Thema seit Jahrhunderten, und das haben wir nicht in den Griff bekommen", kritisiert Mißfeldt.

Antworten auf soziale Fragen

"Russische Bettlerin II" von Ernst Barlach,Ernst Barlach, Russische Bettlerin II, modelliert 1907, Guss zwischen 1932 und 1935, Hamburg, Ernst Barlach Haus - Stiftung Hermann F. Reemtsma © H.-P. Cordes, Hamburg
"Russische Bettlerin II" von Ernst BarlachBild: H.-P. Cordes, Hamburg

Dem Thema "Armutsbekämpfung" ist die gesamte zweite Etage gewidmet. Die beiden Themenkomplexe "Stigma" und "Reform" gehen in einander über. Eine "Almosentafel" aus dem 16. Jahrhundert, der "Hof des Waisenhauses in Amsterdam" von Max Liebermann oder auch eine Fotografie von Peter Hartz, der Gerhard Schröder das Reformkonzept für den Arbeitsmarkt überreicht - all diese Exponate dokumentieren Versuche, Armut und Bedürftigkeit zu bekämpfen. Ganz am Ende der Ausstellung wird eine Figur gezeigt, die für Irritation sorgt. An die Wand des Saales gelehnt, fast in der Ecke, sitzt ein Bettler – eine lebensgroße Plastik von Albrecht Wild, die verblüffend echt aussieht und vor der Kleingeld auf dem Boden liegt: Spenden von Ausstellungsbesuchern, die dem vermeintlichen Bettler einige Münzen hingeworfen haben. Sonja Mißfeldt zieht ein vorläufiges Resümee: "Die Reaktionen an sich sind sehr positiv. Wir haben sehr viele Besucher, das Thema weckt offenbar großes Interesse."

Autorin: Gudrun Stegen
Redaktion: Silke Wünsch