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Deutschland einig Anti-Kernkraft-Land?

19. April 2011

Deutschland einig Anti-Kernkraft-Land? Einen solchen Eindruck kann man dieser Tage nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima gewinnen. Ein Blick auf längerfristige Statistiken aber relativiert diesen Eindruck.

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Bild Atomkraftwerk mit Zoom-Schriftzug über dem Bild (Grafik: DW)

Nahezu unabhängig von ihren frühen Positionen überbieten sich insbesondere Parteien und Politiker derzeit gegenseitig darin, ihre Kernkraftskepsis zum Ausdruck zu bringen. So nachvollziehbar das einerseits ist, so verwunderlich wirkt es doch, wenn man einen Blick zurück wirft. Das Thema Kernkraft war zwischen den Parteien, aber auch in der Bevölkerung, höchst umstritten - mit Gegnern auf der einen Seite und Befürwortern auf der anderen.

Grafik: Zoom: Was dahintersteckt Deutschland besser verstehen (Grafik: DW)

Seit 1998 werden die Menschen in Deutschland im Rahmen von Wählerstudien regelmäßig auch nach ihren Einstellungen zum Thema "Kernkraft" befragt. Konkret heißt das: Sie sollen ihre Haltung zur Kernkraft zwischen den Polen "sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke" einerseits und "weiterer Ausbau der Kernenergie" andererseits einordnen. Zudem werden sie gebeten, auch ihre Wahrnehmungen der Positionen der Parteien anzugeben: Wie stehen in den Augen der Bevölkerung die Parteien zum Thema Kernkraft?

Abbildung 1 zeigt auf dieser Basis, wie die Menschen in Deutschland die Positionen der verschiedenen Parteien zur Zukunft der Kernenergie in den Wahljahren 1998, 2002 und 2009 wahrgenommen haben. Frappierend ist das Maß an Stabilität, das zutage tritt: Über den langen Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt hinweg - in dem gerade im Bereich der Atompolitik weitreichende politische Entscheidungen getroffen wurden - haben sich die wahrgenommenen Positionen der Parteien kaum verschoben.

Infografik: Eigene Positionen der Menschen in Deutschland zur Zukunft Kernenergie (Grafik: DW)
Abbildung 2: Wahrnehmung der eigenen Positionen von Wählern der verschiedenen Parteien

Das schärfste Profil haben dabei durchweg und wenig überraschend die Grünen. Sie werden sehr nah an der Maximalposition "sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke" gesehen. Ebenfalls auf der Seite der Aussteiger werden Linkspartei und SPD gesehen, wenn auch deutlich moderater. Zudem zeigen weitere Analysen gerade der Bevölkerungsmeinung zur Position der Linkspartei, dass viele Menschen sich nicht in der Lage sahen und sehen, deren Position mit Blick auf die Atomkraft zu benennen.

Umgekehrt haben die Menschen im Lande Union (CDU und CSU) und FDP - auch hier mit einem hohen Maß an Stabilität - als Parteien wahrgenommen, die der Kernkraft offen gegenüberstehen. Die Unterstützung wird nicht in der gleichen Intensität wahrgenommen wie auf der anderen Seite die Ablehnung der Kernkraft durch die Grünen. Aber sie ist konstant - bei der Union sogar noch in etwas stärkerem Maße als bei der FDP.

Fazit: Die Wahrnehmung der Parteipositionen hat sich - zumindest vor der Katastrophe von Fukushima - im Zeitverlauf kaum verändert, sondern war durch ein hohes Maß an Stabilität geprägt.

Was denken die Wähler?

Abbildung 2 zeigt: Auch bei den Wählern selbst überwiegt der Eindruck von Stabilität. Insgesamt manifestiert sich im vergangenen Jahrzehnt eine gemäßigt kritische Haltung zur Kernkraft. Von einem gesellschaftlichen Konsens gegen Kernkraft und für einen sofortigen Ausstieg aus der Kernkraft kann offenkundig keine Rede sein, weder zu Beginn (1998) noch zum Ende des betrachteten Zeitraums (2009).

Unterscheiden sich Wähler danach, welcher Partei sie am Wahltag ihr Kreuzchen geben? Ja. Es zeigt sich, dass die Wähler durchaus auf der - wahrgenommenen - Linie ihrer Parteien liegen. Grünen-Wähler - abermals wenig überraschend - befürworten einen raschen Ausstieg aus der Kernenergie. Zugleich lässt sich bei ihnen interessanterweise eine gewisse Tendenz zur Mitte ausmachen. Vermutlich ist dort - unterstützt durch den von der ehemaligen rot-grünen Bundesregierung ausgehandelten Atomkompromiss - die Einsicht eingekehrt, dass eine sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke zumindest schwierig ist. Anhänger von SPD und Linkspartei sind ebenfalls - moderat - kritisch gegenüber Kernkraft eingestellt.

Infografik: Wahrnehmung Positionen Parteien zur Zukunft Kernenergie (Grafik: DW)
Abbildung 1: Wahrnehmung der Positionen der Parteien

Die deutlichsten Verschiebungen zeigen sich bei Wählern von Union und FDP, die gerade in der jüngsten Erhebung des Jahres 2009 ihre Haltungen gegenüber der Kernkraft etwas verändert haben. Sie sind weniger atomkritisch geworden. Offensichtlich ist es Union und FDP im Vorfeld der Wahl 2009 gelungen, ihre Anhänger - zumindest teilweise - von ihrem eher atomfreundlichen Kurs zu überzeugen.

Natürlich steht die Frage im Raum, ob und wie die Reaktorkatastrophe von Fukushima die Einstellungen der Menschen in diesem Lande zur Kernkraft verändert hat. Natürlich werden sie sich - nicht zuletzt auch wegen der Neupositionierung der Parteien - verändert haben. Wenig wahrscheinlich ist gleichwohl, dass die Einstellungen der Bevölkerung aus dem vorangehenden Jahrzehnt mit einem Mal gänzlich verschwunden sind. Das zeigt indirekt auch ein Blick ins benachbarte Ausland, wo die Reaktionen der dortigen Parteien und Regierungen weit weniger heftig ausgefallen sind.

Aus strategischer Sicht könnte man folgern, dass eine weniger radikale Reaktion der Regierungsparteien auf die Ereignisse von Fukushima möglich gewesen wäre. Bei ihrem vollzogenen Kurswechsel ist es ihnen offenkundig nicht gelungen, ihre Wählergruppen mitzunehmen. Und schlimmer noch: Auf dem Weg zu ihrer neuen Position ist ein Stück Glaubwürdigkeit der Regierungsparteien auf der Strecke geblieben - wenig verwunderlich vor dem Hintergrund der Konstanz von Einstellungen und Wahrnehmungen, die das vorausgehende Jahrzehnt geprägt haben.

Autor: Thorsten Faas
Redaktion: Kay-Alexander Scholz

Porträt Thorsten Faas (Foto: privat)
Bild: privat

Thorsten Faas, geboren 1975, ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Mannheim und forscht insbesondere zum Wählerverhalten. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören außerdem die Themen Wahlkämpfe und politische Folgen von Arbeitslosigkeit.