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Auf dem langen Weg nach Europa

Anna Bakovic26. Oktober 2004

Albanien blickt voller Hoffnung auf die blaue Fahne der EU. Das kleine gebirgige Land will weg von Schlagzeilen über Drogenschmuggel und Menschenhandel. Doch der Weg in die Europäische Union ist beschwerlich.

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Albanien will nicht mehr der "Wilde Westen" des Balkans seinBild: AP

Das "Armenhaus Europas" steht auf dem Papier gar nicht so schlecht da: geringe Inflation, die Wirtschaft wächst. Das Ausmaß des Drogen- und Menschenhandels konnte reduziert werden. Und doch fällt die Bilanz nach dem Umbruch 1991 zwiespältig aus. Vetternwirtschaft ist in der albanischen Politik nach wie vor dominant. In der Provinz herrscht weiterhin die archaische Sitte der Blutrache.

Vergangenheitsbewältigung auf Albanisch

Albaniens Vergangenheitsbewältigung folgt eigenen Gesetzen. Spuren des kommunistischen Regimes verschwinden einfach oder werden ausgelöscht. Im Museum für Geschichte hat man Fotos der "Helden" des Kommunismus entfernt und Bilder der Opfer ausgestellt. Nexhmije Hoxha, Witwe des 1985 verstorbenen Autokraten Enver Hoxha, lebt in ihrem Anwesen ohne Sicherheitsvorkehrungen. Rache von Angehörigen misshandelter oder verschwundener Regimegegner fürchtet sie offensichtlich nicht, denn politische Gegner werden im heutigen Albanien nicht mehr einfach liquidiert, sondern höchstens ins Gefängnis gesperrt.

Neues Wahlgesetz als Zankapfel

2003 hat das Land der Skipetaren mit der EU die Verhandlungen über ein Stabilitäts- und Assoziierungsabkommen aufgenommen. Das Ziel ist die Mitgliedschaft im Jahre 2015. Ein erster Prüfstein auf dem beschwerlichen Weg nach Europa könnten die Parlamentswahlen 2005 sein. Seit Monaten tobt ein erbittertes Ringen um eine Reform des Wahlgesetzes zwischen der OSZE, die sich des Anliegens auf legislativer und organisatorischer Ebene angenommen hat, und den Parteien im Parlament. Dabei wird sichtbar, dass die Protagonisten der albanischen Politik in totalitären Verhaltensmustern verharren.

Kampf der letzten beiden Dinosaurier

Sali Berisha und Fatos Nano Albanien
Die Dauerfehde zwischen Berisha und Nano nervt die AlbanerBild: AP

Albanien wird de facto seit über zehn Jahren entweder vom derzeitigen Regierungschef Fatos Nano oder dem Oppositionsführer Sali Berisha regiert. Beide waren Teil des alten Apparats und stützen ihre Machtpolitik auf Parteifreunde. Ihre persönliche Fehde erschwere den Fortschritt des Landes, gleichzeitig verleihe diese eingefahrene Situation Albanien aber auch eine gewisse Stabilität, denn die Lage sei dadurch berechenbar, erklärt Adelheid Feilcke-Tiemann aus der Albanischen Redaktion der Deutschen Welle.

Tirana – Motor der Transitsituation

Tirana
Tirana - Europas Metropole mit den meisten SchlaglöchernBild: AP

Der wirtschaftliche Aufschwung des Landes wird in der Hauptstadt ganz besonders deutlich. Überall wird gebaut, ausgebessert und verschönert. Endlose Schlangen von Mercedes-Limousinen schlängeln sich auf den einstmals autofreien Prachtboulevards. Noch vor fünfzehn Jahren waren Privatautos verboten. Die Lebensqualität hat sich erhöht, Stromausfälle sind seltener geworden. Während sich die Großstädte rasant verändern, schreitet die Entwicklung auf dem Land langsamer voran. Immer noch verlassen viele junge Albaner ihre Heimat wegen mangelnder Perspektive. 33 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 15 Jahre, fast die Hälfte ist unter 25 Jahre alt. Sie wollen nicht als Zigarettenverkäufer, Autoscheibenwäscher, Drogendealer oder Sexsklaven enden.

Verharren in sozialistischen Denkmustern

Die Tatsache, dass Albanien den Flughafen privatisiert, ist Beleg dafür, dass das Land für Investoren durchaus interessant ist. Das Engagement des deutschen Bauriesen Hochtief könnte auch andere Investoren zum Engagement ermutigen, die sich gegenwärtig noch in Zurückhaltung üben. Die mangelnde Rechtssicherheit und die Vetternwirtschaft in der Politik schrecken viele Interessenten ab. In allen Bereichen kommen immer wieder Bestechungen vor. So sind viele Richter beeinflussbar. Das hänge mit der langen Abschottung des Landes unter Enver Hoxha zusammen, erklärt Feilcke-Tielmann. In der sozialistischen Zeit habe man nur überleben können, wenn man sich gegenseitig unterstützte. Diese langjährigen Netzwerke würden heute die Entwicklung des Landes behindern.

Gefangene des Blutes

Albanien Todesanzeigen Blutrache
Wo der Staat nicht greift, üben sich die Menschen in LynchjustizBild: AP

Ein weiteres Problem ist die fortdauernde Anwendung des Gewohnheitsrechts "Kanun", das unter anderem die Blutrache ("Gjakmarrja") vorsieht. Die albanische Regierung hat zwar die Strafen für Blutrache verschärft, auch konnten einstmals verfeindete Familien versöhnt werden. Trotzdem leben im Norden des Landes nach wie vor männliche Familienmitglieder im "inneren Exil". Männer gehen nicht mehr zur Arbeit, Kinder nicht mehr zur Schule, denn beim ersten Schritt vor das Hoftor droht die Kugel aus dem Hinterhalt. Die Frauen, laut Kanun von der Blutrache ausgenommen, müssen mit schlecht bezahlten Putzjobs allein für den Lebensunterhalt ihrer Familien sorgen. Das organisierte Verbrechen nutzt diese archaische Sitte zur Erpressung oder als Mittel um lästige Konkurrenz aus dem Weg zu räumen. Die Blutrache greift immer dann, wenn das Rechtssystem schlecht funktioniert und der Respekt vor dem Gesetz fehlt. "Dabei hat Albanien die beste Verfassung Europas", sagt Feilcke-Tiemann. "Allerdings fehlt es an der konsequenten Umsetzung." Ausgearbeitet wurde sie in Zusammenarbeit mit dem Europarat.

Es ist genug!

Albanien Jugendorganisation Mjaft demonstriert
Die Bürgerbewegung "Mjaft" kämpft gegen PolitikfilzBild: AP

Auch in Albanien gibt es einen Hoffnungsschimmer: die vor anderthalb Jahren gegründete Jugendbewegung "Mjaft" (deutsch Genug!). Mit "Mjaft" tritt in Albanien erstmals jene Bürgergesellschaft in Aktion, die als sogenannte "civil society" in Osteuropa maßgeblich zum Systemwechsel beigetragen hat. Als Italien seinen Müll im albanischen Kasha deponieren wollte, mobilisierte die Bürgerbewegung die Medien, organisierte Straßenproteste und zwang die Regierung, das Projekt vorerst auf Eis zu legen.

Albanien steht zwar an erster Stelle des europäischen Länderalphabets, ist jedoch noch nicht in Europa angekommen. Es bleibt zu hoffen, dass die Protagonisten der albanischen Politik der jahrelangen Rechtlosigkeit ein Ende bereiten.