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"Aufarbeitung der Unruhen hat Priorität"

Mathias Bölinger2. November 2010

Hätte Europa mehr tun können, um den Konflikt in Kirgisistan zu verhindern? Interview mit Pierre Morell, Zentralasien-Beauftragter der Europäischen Union

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Eine Wahlkomission bei BischkekBild: picture-alliance/dpa

DW-WORLD.DE: Sie waren seit dem April-Aufstand bereits mehrmals in Kirgisistan. Ist die Situation inzwischen so, dass Sie seltener dorthin fahren müssen?

Bau eines neuen Hauses für die Opfer des Konflikts in Kirgistan
Wiederaufbau im Süden KirgistansBild: DW

Ich war tatsächlich sehr oft dort, aber Kirgisistan ist in einer Situation, in der es wichtig ist, die Lage sehr genau zu beobachten. Enge Kontakte zwischen Kirgisistan und der Europäischen Union sind in dieser Situation sehr wichtig. Bereits drei Tage nach den Unruhen, die im April zum Sturz der Regierung Bakijew geführt haben, haben wir als EU uns gemeinsam mit den Vereinten Nationen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) geeinigt, unsere Anstrengungen eng zu koordinieren. Wir haben unsere Kontakte mit verschiedenen Behörden abgesprochen und koordinieren unsere Handlungen seither regelmäßig. Deshalb haben wir Anfang des Jahres auch eine EU-Vertretung in Kirgisistan eingerichtet. Wir haben ein Interesse daran, dass sich Kirgistan weiterhin demokratisch entwickelt. Mit dem Referendum im Juni und den Wahlen im Oktober sind die ersten Schritte gemacht, aber die Entwicklung muss weitergehen. Das haben wir der Regierung auch deutlich gesagt. Wir verstehen, dass das Land neu aufgebaut werden muss, aber unter Beachtung rechtsstaatlicher Normen.

Vor einem Jahr haben sie gesagt, dass sie die Zentralasien-Strategie der EU für erfolgreich halten. in der Zwischenzeit hat es in Kirgistan den Sturz einer Regierung und ethnische Unruhen mit vielen Toten gegeben. Auch in Tadschikistan ist die Lage deutlich angespannt. Halten Sie die Strategie der EU immer noch für erfolgreich? Hätte Europa in der Region nicht mehr tun können?

Kirgistan Kirgisien Unruhen in Osch
Bei den Unruhen im Juni wurden Hunderte Menschen getötetBild: AP

Wenn wir einen solchen Schock wie jetzt in Kirgisistan erleben, dann ist natürlich klar, dass es vorher Mängel gegeben haben muss. Ich möchte die Kritik nicht ignorieren. Wir haben unsere ersten Schritte drei Jahre lang diskutiert und eine kritische Bilanz im Juni auf dem EU-Gipfel gezogen. Wir werden uns in Zukunft stärker um den Wasserstreit zwischen den zentralasiatischen Staaten kümmern, um die sozialen Probleme und um die Frage der Migration. Aber dennoch haben wir sowohl mit den Mitgliedsstaaten der EU als auch mit unseren Partnern in Zentralasien vereinbart, dass wir an unseren ursprünglichen Schwerpunkten festhalten werden: Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, Bildung, wirtschaftliche Entwicklung, Energie, Umwelt und Sicherheit. Was Kirgisistan angeht, sind das die Felder, auf denen wir schnelle Erfolge brauchen. Ich glaube, wir haben sehr schnell und sehr effektiv reagiert, aber wir respektieren die Souveränität Kirgistans und wollen den Kurs Kirgisistans nicht vorgeben. Wir respektieren die Wahl des Volkes.

In Kirgisistan wird dem Westen oft vorgeworfen, die ethnischen Unruhen in Südkirgistan zu einseitig zu sehen. Der Westen habe ausschließlich die usbekischen Opfer wahrgenommen, ist einer der Vorwürfe. Auch eine OSZE-Polizeimission hat ja nicht stattgefunden, weil sie von den Kirgisen als parteiisch wahrgenommen wird. Hat der Westen die Ereignisse richtig wahrgenommen?

Ich glaube nicht, dass man uns vorwerfen kann, eine einseitige Sicht zu haben. Wir haben uns bemüht, die Ereignisse verstehen, die zu dieser Tragödie geführt haben. Die Einwohner erzählen uns ja auch, dass es eine sehr komplizierte Angelegenheit ist. Wir müssen deshalb möglichst schnell eine vollständige Untersuchung der Ereignisse anstellen, damit wir wirklich verstehen können, was dort passiert ist. Ohne eine gründliche Untersuchung wird das Unverständnis zwischen den Bewohnern weiter wachsen und die Folgen könnten gefährlich sein. Als es 1990 zum ersten Mal dort zu ethnischen Ausschreitungen gekommen war, ist nichts dergleichen passiert. Viele Menschen in Kirgistan haben mir gesagt, dass diese Tragödie auch deshalb stattfinden konnte, weil die Ereignisse damals nicht aufgearbeitet wurden. Natürlich haben wir dort humanitäre Hilfe geleistet und wir beteiligen uns auch am Wiederaufbau. Ich habe mich im zerstörten Viertel Suleiman-Too in Osch selbst überzeugen können, wie die Menschen mit unserer Hilfe ihre Häuser wieder aufgebaut haben. Aber die oberste Priorität hat für uns die Aufarbeitung der Ereignisse. Es gibt eine unabhängige internationale Komission, die die Ereignisse aufklären soll. Ich habe auch die nationale Kommission zur Aufarbeitung getroffen. Ist das einseitig? Ich glaube nicht. Aber wenn der Frieden im Land bedroht ist, wenn Anwälte, die die Opfer vor Gericht vertreten, verfolgt werden und wenn die Grundrechte in den Prozessen verletzt werden, dann machen wir unsere Sorgen auch auf höchster Ebene deutlich.

Das Gespräch führte Michail Bushuev
Übersetzung: Mathias Bölinger
Redaktion: Silke Ballweg

Pierre Morell ist seit 2006 Beauftragter der Europäischen Union für Zentralasien