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Reise

Erinnerungen an Interrail-Reisen

Jennifer Wagner
12. Juni 2018

15.000 junge Europäer dürfen kostenlos mit der Bahn durch Europa reisen. Das fördert jetzt die EU. Ehemalige "Interrailer" haben der DW erzählt, was sie erlebt haben, als sie mit dem Zug Europa entdeckt haben.

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Junger Mann im Zug -  InterRail
Bild: picture-alliance/PYMCA/Photoshot/Gonzales Photo/J. Hojgaard

Stephan Stickelmann:

Meine erste Interrail-Tour mit zwei Freunden war im Sommer 1976. Damals wollten wir andere Freunde in Malaga besuchen. In Spanien gab es noch viele eingleisige Strecken, so dass Züge oft auf den Gegenzug warten mussten. So geschah das bei uns auch einmal an einer kleinen Bahnstation - ich glaube, in der Nähe von  Alcazar de San Juan südlich von Madrid. Als ich aus dem Fenster sah, erblickte ich den Stationsvorsteher und den Lokführer: Sie hatten sich direkt neben der Lok an einem Campingtisch niedergelassen - und tranken brüderlich ein Gläschen Rosé-Wein! 

Ich erinnere mich auch daran, dass wir in spanischen Zügen damals während der Fahrt die Außentür aufmachten und die Sonne auf den Eingangsstufen sitzend genossen! Die Züge hatten nach meiner Erinnerung oft nur ein Tempo von rund 50 Stundenkilometern drauf. Die spanischen Schaffner ermahnten uns höchstens einmal dazu, vorsichtig zu sein - ansonsten ließen sie uns aber in Ruhe auf den Stufen sitzen.

Meine zweite (und letzte) Interrail-Tour war im Sommer 1978. Damals war die Interrail-Regelung so, dass man für die Fahrten auf bundesdeutschem Gebiet zumindest den halben regulären Fahrpreis zahlen musste. Es galt also, möglichst schnell aus Deutschland rauszukommen. Damals wollten wir - vier Jungs, ein Mädchen - nach Patras in Griechenland, der direkte Weg über Süddeutschland war uns zu teuer. Also fuhren wir erst nach Paris, von dort nach Basel, dann weiter nach Venedig. Dort startete der Zug nach Athen - er brauchte für diese Strecke von Montagabend bis Mittwochmorgen.

Zwei Dinge sind mir bei dieser Tour besonders in Erinnerung geblieben. Zum einen haben wir die Fahrt von Paris nach Basel stehend auf dem Gang verbracht  - weil der Zug am Sonntagabend übervoll war mit französischen Soldaten, die zurück in ihre Kasernen mussten. Aber wir haben - an die Fensterfront gelehnt - sogar im Stehen geschlafen. Es geht!

Zweitens ist mir die süße blonde Schwedin im Zug von Venedig nach Athen in Erinnerung geblieben. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich ihren Namen vergessen habe! Wir haben uns die lange Fahrt unter anderem mit vielen Zigaretten und Mühlespielen vertrieben.

Jugendliche Rucksacktouristen tragen ihr Gepäck über einen Bahnsteig. (Foto: imago)
Ab nach Europa: In den 1970er und -80er Jahren reisten viele junge Leute mit InterrailBild: imago/imagebroker/Theissen

Per Sander:

Ich bin drei oder vier Mal Mitte bis Ende der 1980er Jahre mit Interrail gereist. In dieser Zeit haben das viele junge Leute gemacht und wir haben uns alle in Jugendhostels in ganz Europa getroffen. Es war wahrscheinlich ein bisschen so, wie heute die Backpacker in Asien unterwegs sind.

Meine Freunde und ich sind vor allem zwischen den Hauptstädten gereist, haben Museen besucht, Kunstgalerien und berühmte Wahrzeichen. Ein wenig Zeit haben wir aber auch am Strand verbracht. So kam ich nach Berlin, Amsterdam, Brüssel, Paris, Barcelona und Madrid. In einem Jahr fuhren wir nur nach Italien, um Rom, Florenz, Venedig, Pisa und Verona zu besuchen. Als Schwede, der in den 1970er Jahren aufgewachsen ist, hatte ich zuvor noch keine dieser Städte gesehen - vor meinem Interrail-Trip war ich erst zweimal auf dem "Festland Europa" gewesen.

Im Sommer waren die Züge voll mit Interrailern. Viele von uns nahmen die Langstrecken-Züge über Nacht, um Geld für ein Hostel zu sparen. Stattdessen streckten wir uns überall auf dem Boden der Gänge aus. Ich erinnere mich an einen Freund, der eine Nacht auf dem Toiletten-Boden geschlafen hat.

Wenn man damals einen Nachtzug bestiegen hat, ist man durch die Abteile gelaufen - in der Hoffnung, ein leeres zu finden. Wenn man der Glückliche war, musste man schnell die Tür schließen und den Vorhang zuziehen. Anschließend konnte man sich ausbreiten, die Musik aufdrehen und ein Bier oder einen Wein aufmachen. Wir hatten damals einen Ghettoblaster dabei und bis zu zwanzig Mixtapes.

Eine meiner schönsten Erinnerungen ist, als ich an einem Strand in Spanien saß, hell erleuchtet durch den Mond. Wir hörten, wie Fischer auf ihrem Boot Lieder von Bob Marley spielten.

In einer anderen Nacht landeten wir auf einer Party in einem besetzten Haus in Berlin-Kreuzberg, ganz in der Nähe der Mauer. Von dort aus nahm uns ein Mädchen mit in eine riesige Villa in einer wohlhabenden Gegend der Stadt. Dort spielten wir mit einer Doktor-Ausrüstung - der Vater des Mädchens war Arzt. Ich erinnere mich noch, dass wir in ein Rohr pusteten und unsere Lungen-Kapazitäten testeten - wir lachten uns kaputt!

In einem Jahr saßen wir in einem Restaurant im französischen Perpignan. Ein wunderschönes Mädchen bediente uns. Nach dem Essen, als sie mit ihren Kollegen zusammenstand, ging ich zu ihr und fragte sie, ob sie mich heiraten möchte. Sie sagte nein. Aber wir hatten eine lustige Nacht mit ihr und ihren Freunden.

Belgien Wenig Touristen auf dem Grand Place in Brüssel
In Brüssel wurden Per Sanders Reiseschecks geklautBild: Getty Images/AFP/T. Monasse

Zum Glück musste ich nur wenige schlechte Erfahrungen machen: Wir waren damals - in der Prä-Euro-Zeit - mit Reiseschecks unterwegs, für Kreditkarten waren wir zu jung. Leider versteckte ich meine unter meinem Kissen in unserem Hostel in Brüssel. Ich dachte, es wäre okay, aber als wir vom Frühstück zurückkamen, waren sie weg. Zum Glück hatte ich meinen Pass und mein Zugticket bei mir. Trotzdem war ich pleite und als wir in Paris ankamen, rief ich meine Eltern aus einer Telefonzelle von den Champs-Élysées an und bat sie um Geld. Sie schickten neue Schecks, die ich ungefähr zwei Tage später in einem Thomas-Cook-Büro abholen konnte. Mein Geld vom Sommer-Job durfte ich dann direkt an meine Eltern weitergeben. In Paris wurde mir dann auch noch die Kamera meines Bruders gestohlen. 

Doch letztendlich glaube ich, dass diese Erfahrungen auch dazu gehören. Sie sind Teil des Lebens. Alles in allem hat mir Interrail auf jeden Fall geholfen, das Leben besser zu verstehen und erwachsen zu werden. Gleichzeitig hatte ich eine Menge Spaß und konnte Menschen aus ganz Europa kennenlernen.

Werner Schmitz:

1991 war ich mit Interrail unterwegs. In Madrid saßen mein Begleiter und ich zur Abwechslung mal in einem luxuriösen Zug - Großraumwagen, nicht überfüllt, aber voll belegt und zugewiesene Plätze. Wir waren in Sichtkontakt, aber ein paar Reihen auseinander. Ansonsten im Waggon: eine große Gruppe junger Spanier.

Zu dieser Zeit war ich vertraut mit Montesquieu, Oxymoron und Vektorrechnung. Was ich nicht kannte, waren Tourette-Syndrom, Tics und, hm, Verhaltensauffälligkeiten. Der Spanier im Sitz neben mir zappelte, rief unablässig ein paar Worte durch den Waggon und beendete sie jedes Mal mit einem "Sssst - sssst". Die Abfahrt verzögerte sich, die Gruppe kommunizierte weiter heftig und es gab viele Gelegenheiten für ein bekräftigendes "Sssst - sssst".

Ich drehte mich um zu meinem Begleiter und sprach deutsch in der (richtigen) Annahme, dass das hier niemand sonst verstand. "Der geht mir auf den Keks. Wenn das so weitergeht, klatsch ich ihm eine." Immer locker und freundlich bleiben, wurde mir signalisiert.

Das Problem erledigte sich dann auf einfachste Weise: Die Gruppe stieg beim nächsten Halt aus. 

Hafen in Lissabon
Verwirrung um die Fähre in Lissabons Hafen, gab es auf der Interrail-Tour von Werner SchmitzBild: DW/J. Carlos

In Lissabon gab es einen streng riechenden Bärtigen (heute würde man sagen, er sah aus wie ein Taliban), der orientierungslosen Rucksacktouristen das in der Tat nicht ganz transparente Reisen mit der Fähre erklärte und im Gegenzug ein paar Münzen erwartete. Ich kannte Fährwesen und Ratgeber von der vorherigen Tour und Geld war wie immer knapp. Als der Bärtige also ungefragt seine Dienste anbot, stoppte ich ihn mit "Yes, I know".

Die Quittung für dieses sicher nicht perfekte Sozialverhalten folgte prompt. Ich wollte vor der Abfahrt noch mal die "Waschräume" benutzen, und fand … das am schlimmsten zugerichtete Plumpsklo aller Zeiten. Die Stadt Lissabon hatte offensichtlich angesichts der Hinterlassenschaften von Horden von Rucksackreisenden den Kampf aufgegeben. 

Die Dächer der französischen Stadt Orange (Foto: picture-alliance)
Kersten Knipp war auf Interrail-Tour in Frankreich und machte Halt unter anderem in OrangeBild: picture-alliance/akg-images/H. Champollion

Kersten Knipp:

Der Sommer 1985 war schön. Eine Freundin hätte ich damals gerne gehabt - leider hatte ich aber keine. So machte ich mich allein mit Interrail auf den Weg und statt der Freundin leisteten mir Bücher Gesellschaft - in diesem Fall ganz klar die zweite Wahl, so schien es mir jedenfalls damals. In Avignon kaufte ich dann mein erstes französisches Buch, "Le Horla" von Guy de Maupassant. Eine Novelle mit übersinnlichen Elementen, eigentlich nicht mein Geschmack. Aber das Französische hatte es mir angetan und zu meinem Erstaunen verstand ich fast alles.

Maupassant begleitete mich, ich las ihn in Orange, Arles, am Pont du Gard. Der Klang des heute leicht veralteten Französisch unter dem mächtigen Aquädukt, diese vollkommene Symbiose von Natur und Kultur, die Schönheit des Worts, die sich mit der der Landschaft verwob: Zusammen ergab es einen Eindruck, der sich auf immer in die Erinnerung gedrückt hat, als flirrendes Bild eines ewigen Südens. (Im Winter war Interrail natürlich komplett uninteressant.)

Interrail wurde so zu einer klassischen Bildungsreise und, jedenfalls in der Rückschau, auch ohne Freundin einigermaßen romantisch. Vor allem verliebte ich mich in die romanischen Sprachen. Das entsprechende Fach, Romanistik, habe ich dann auch studiert, heute arbeite ich mit dieser Sprache. Eine Beziehung fürs Leben, befriedigend in jeder Hinsicht. Danke Frankreich, danke Interrail!

Bewerbung um eines der 15.000 kostenlosen Tickets

"DiscoverEU": So heißt die Initiative der Europäische Union, die diesen Sommer 15.000 kostenlose Interrail-Tickets anbietet. Bewerben können sich jetzt junge Europäer im Alter von 18 Jahren. Der Wettbewerb läuft zwei Wochen über das Europäische Jugendportal. Die Reiselustigen müssen ein Bewerbungsformular ausfüllen und an einem Europa-Quiz teilnehmen. Die Gewinner treten ihre Reise zwischen Juli und September 2018 an.