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Weisrussische Internet-Revolutionäre

12. Juli 2011

"Stummer Protest" heißen die Aktionen der weißrussischen Internetaktivisten. Sie finden jeden Mittwoch statt. Die Online-Community "Revolution durch das soziale Netz" steuert ihre Aktionen virtuell.

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Applaudieren verbotenBild: picture alliance/dpa

"Revolution durch das soziale Netz" heißt die Gruppe, die den Diktator Aleksandr Lukaschenko das Fürchten lehrt. Knapp 25.000 Mitglieder hat sie inzwischen. Die Kommunikation läuft über die Internet-Plattform vkontakte - zu Deutsch "In Kontakt" - und ist sozusagen die russischsprachige Antwort auf Facebook. In einem Offenen Brief an den "Bürger Lukaschenko" sagen die Organisatoren dem Regime des verhassten Präsidenten den Kampf an: "Wir kämpfen nicht für ein Stück Wurst oder 20 Dollar extra, sondern um die Freiheit."

Seit Anfang Juni finden von der Gruppe organisierte Aktionen statt - immer mittwochs, immer stumm, immer friedlich. Landesweit gingen zuletzt schätzungsweise 5000 Menschen auf die Straße. Das Regime sieht sich herausgefordert: Vergangenen Mittwoch wurden Hunderte Demonstranten festgenommen.

Internet-Revolutionäre wollen Widerstand organisieren

Weißrussland Screenshot www.vkontakte.ru
Die Seite der Online-Community

Wjatscheslaw Dianow ist Administrator der Gruppe "Revolution durch das soziale Netz". Er stellt klar, dass politische Programme nicht Sache der Online-Community seien. "Wir kämpfen für die Freiheit unseres Landes. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass das Lukaschenko-Regime beseitigt wird." In freien Wahlen müssten die Bürger ihre politischen Anführer bestimmen, deren Part es dann sei, den Staat zu formieren. Die Online-Aktivisten sehen ihre Aufgabe darin, die Bürger zu aktivieren und den Protest zu organisieren, um breite Bevölkerungsschichten, insbesondere die Arbeiterschaft zu erreichen. Dazu soll der Protest aus der virtuellen Welt in die Realität übergehen.

Dass ausgerechnet Internet-Revolutionäre an der Spitze der Protestbewegung stehen, ist kein Zufall, findet der Journalist und Experte für Weißrussland, das auch Belarus genannt wird, Ingo Petz. Im Zuge der Repressionswelle, die nach den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 begann, wurden Oppositionspolitiker verhaftet, in Schauprozessen abgeurteilt oder ins Exil getrieben. Im Resultat sei die parteipolitische Opposition ausgeschaltet, erläutert Petz. Jetzt übernehmen andere Kräfte aus der Gesellschaft deren Platz.

Warum von der parteipolitischen Opposition nichts zu hören ist

Der belorussische Politologe Denis Melyantsov
Der belarussische Politologe Denis MeljanzowBild: Denis Melyantsov

Wjatscheslaw Dianow von den Online-Aktivisten sagt, er persönlich habe keine Berührungsängste mit den Oppositionspolitikern. "Es ist unwichtig, wer auf die Straße geht: Oppositionspolitiker, Arbeiter, Studenten. Das wichtige ist, dass sie die Form der Aktionen unterstützen: keine Losungen, keine Transparente oder ähnliches. Wenn die politischen Parteien bereit sind, diese Form des Protests zu unterstützen, dann werden wir das nur begrüßen."

Für diesen Mittwoch (13.07.2011) haben sich die Organisatoren von "Revolution durch das soziale Netz" einen Plan ausgedacht, der ebenfalls auf der vkontakte-Seite nachzulesen ist. Demnach sollen die Teilnehmer dieses Mal auf keinen Fall applaudieren, sondern sich in kleinen Gruppen in verschiedenen Einkaufszentren versammeln, und sich von dort aus zu einer verabredeten Zeit zu Treffpunkten zu begeben, um dort spazieren zu gehen. Wiederum ausdrücklich unerwünscht: politische Losungen, Transparente und Sprechchöre.

Der belarussische Politologe Denis Meljanzow sagt, die Internet-Revolutionäre spürten, dass in der Gesellschaft der Protest heranreife. Viele Menschen warteten auf politische Aktionen, fänden aber keinen Rückhalt in der bisherigen Opposition. Diese Lücke schienen die Internet-Aktivisten zu füllen.

Flashmob statt Kundgebung

Vladimir Gorbatsch
Belarus-Experte Wladimir GorbatschBild: Vladimir Gorbatsch

Der russische Politikwissenschaftler Kirill Kotysch ist der Ansicht, die "stumme Revolution" sei Ausdruck einer atomisierten Gesellschaft. Sein ukrainischer Kollege Wladimir Gorbatsch weist darauf hin, dass das Netzwerk "Revolution über das soziale Netz" dem Zeitgeist entspreche. Die junge Generation gehe eben nicht auf Kundgebungen, schreibe keine Protestartikel, sondern äußere sich durch die Teilnahme an flashmobs - einer modernen, über das Internet organisierten Variante des Massenauflaufs. Kotysch hält es aber längst nicht für ausgeschlossen, dass sich auch die ältere Generation dem Protest anschließt. Auf jeden Fall lege der stumme Protest die ganze Absurdität der politischen Lage in Weißrussland offen, dass man sogar für Applaus in die Fänge des staatlichen Unterdrückungsapparates geraten könne.

Die Internet-Revolutionäre setzen jedenfalls auf den Faktor Zeit. Wjatscheslaw Dianow ist überzeugt, dass das Regime früher oder später kollabiert. In der Tat steht Lukaschenko mit dem Rücken zur Wand: Die Kommandowirtschaft ist in desolatem Zustand, die Währung hat mehr als die Hälfte an Wert verloren, die Inflation galoppiert davon, während die Arbeitslosigkeit, ob offen oder verdeckt, zunimmt. "Früher oder später wird die Unzufriedenheit mit dem Lukaschenko-Regime in Massenprotest münden", sagt Dianow.

Die Experten meinen auch, dass die aktivste Phase des Protests erst im Herbst zu erwarten ist. Das wäre dann auch der Moment, zu dem sich die bisherige Opposition entschieden haben muss, wie sie zu den Internet-Revolutionären steht, meint Denis Meljanzow: Entweder sie ergreift die Möglichkeit, sich an die Spitze der Proteste zu stellen, oder auf den weißrussischen Straßen werden im Herbst neue politische Anführer erscheinen.

Autoren: Birgit Görtz, Galina Petrowskaja, Vladimir Dorokhov
Redaktion: Bernd Johann