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Bank: "Erdogan verliert Dominanz"

Jan-Philipp Scholz7. Juni 2013

Durch die Proteste in der Türkei könne sich Syriens Diktator al-Assad vorerst sicherer fühlen, meint Nahost-Experte André Bank. Im DW-Interview spricht er über soziale Ursachen und außenpolitische Folgen des Aufstands.

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André Bank, Wissenschaftler am GIGA-Institut für Nahost-Studien in Hamburg (Foto: GIGA)
Bild: GIGA

Deutsche Welle: Herr Bank, die Proteste in der Türkei dauern inzwischen über eine Woche an. Einige Beobachter sprechen bereits, angelehnt an die Umbrüche in der arabischen Welt, von einem "Türkischen Frühling". Halten Sie die Einschätzung für gerechtfertigt?

Ein Unterschied ist, dass die Forderungen eines Großteils der Demonstranten nicht auf einen Sturz des Regimes abzielen, sondern eher auf das Einfordern von größeren politischen Freiheiten. Wo es aber doch Ähnlichkeiten mit dem Arabischen Frühling gibt, ist bei den Symboliken: dass ein zentraler Platz in der Hauptstadt besetzt wird, dass eine Art Volksfeststimmung herrscht und dass vor allem junge, gut ausgebildete, urbane Türkinnen und Türken dort sind. Außerdem fristen die etablierten Oppositionskräfte, die Kemalisten, die nationalistische MHP und auch kurdische Organisationen, die Abdullah Öcalan nahestehen, eher noch ein Randdasein.

Ministerpräsident Recep Erdogan gibt sich noch immer recht unbeeindruckt. Wurde seine Position durch die Proteste trotzdem geschwächt?

Ein Stück weit schon. Denn einige seiner engsten Vertrauten, wie beispielsweise sein Vizepremierminister, haben sich ja schon für die Polizeigewalt entschuldigt. Auch Präsident Abdullah Gül hat schon mäßigend eingegriffen. Es ist also offensichtlich, dass es im Establishment der regierenden AKP verschiedene Ansichten gibt. Man könnte das natürlich als eine Art Aufteilung in "Good Cop" und "Bad Cop" abtun. Man kann es aber auch so sehen, dass Teile in der AKP selbst mit dem autoritären Verhalten von Ministerpräsident Erdogan unzufrieden sind und auch damit, dass er einfach viele Wahlversprechen nicht eingehalten hat. Die Unzufriedenheit in der Türkei geht also weit über eine kleine, urbane Mittelschicht hinaus. Ein zentrales Moment dahinter ist, dass bei der türkischen Variante des Neoliberalismus zunehmend Leute außen vor bleiben. Das betrifft gerade die jungen Leute, aber auch Teile der AKP-Basis.

Der Aufstand hat also auch wirtschaftliche und soziale Ursachen?

Genau so ist es. Einerseits ist es ein sozialer Aufstand gegen die ökonomische Schere, die auch in der Türkei immer weiter auseinandergeht - trotz des offiziellen Wirtschaftswachstums. Andererseits geht es natürlich auch gegen die verstärkten autoritären Tendenzen. Hier ähnelt die Situation in der Türkei inzwischen auch schon ein Stück weit dem Arabischen Frühling, aber eben auch der Occupy Bewegung, auch den Protestbewegungen in Griechenland, Spanien, Italien und Portugal. Es geht also auch gegen die Auswüchse einer neoliberalen Reform, die in der Türkei besonders drastisch zu spüren sind. Und dass sich die Proteste in dem einzigen verbliebenen Park im Zentrum von Istanbul ausdrücken, ist ein Beweis dafür, dass es auch um ökologische Fragen geht. Die neoliberale Umgestaltung der Türkei wurde von Erdogan massiv forciert. Das drückt sich auch aus in Bauvorhaben wie der dritten Brücke, die jetzt über den Bosporus gebaut werden soll, oder der Abholzung ganzer Waldgebiete im Osten des Landes zur Energiegewinnung. Deshalb ist es auch keine Bewegung, die nur auf das Zentrum von Istanbul beschränkt ist.

Welche weiteren innenpolitischen Konsequenzen halten Sie denn für wahrscheinlich?

Es zeigt sich auf jeden Fall, dass die vermeintliche absolute Dominanz der Regierungspartei AKP und die Kontrolle der türkischen Innenpolitik, wie sie seit dem Wahlsieg 2002 geherrscht hat, gebrochen ist oder zumindest deutliche Risse bekommen hat. Das Bild von einem "neo-osmanischen Sultan", der über ein aufstrebendes Boomland herrscht, ist nun deutlich in Frage gestellt.

Außenpolitisch gilt Ministerpräsident Erdogan ja als ein wichtiger Gegenspieler des syrischen Diktators Baschar al-Assad. Welche Folgen könnte seine Schwächung für die gesamte Region haben?

Mit Blick auf Syrien, dem momentan zentralen Konflikt für die Türkei, lässt die innenpolitische Schwächung Erdogans meiner Meinung nach ein militärisches Abenteuer noch unwahrscheinlicher werden. Oftmals wird ja bei einer innenpolitischen Krise außenpolitisch aggressiver agiert, um von den Problemen abzulenken. Das sehe ich in der Türkei aber überhaupt nicht gegeben, denn ein Großteil der Unterstützer der AKP und laut Umfragen bis zu drei Viertel der türkischen Bevölkerung sind gegen eine Intervention in Syrien.

Hat das auch einen Einfluss auf die regionalpolitischen Interessen des Westens?

Die Türkei wird nun generell sicherlich schwieriger dazu zu bewegen sein, in Syrien im Sinne der anderen NATO-Staaten und Europas zu agieren, zum Beispiel bei der möglichen Errichtung einer Flugverbotszone. Kurzfristig wird sich die Regierung auf die Eindämmung und die Kontrolle der innenpolitischen Herausforderung konzentrieren müssen. Das schränkt auch die Optionen der Amerikaner und der Europäer ein Stück weit ein. Gleichwohl könnte es für den Westen aber auch neue Chancen bieten. Ein geschwächter Erdogan ist vielleicht auch leichter in westliche Politikvorstellungen einspannbar. Kurzfristig sehe ich das noch nicht - mittelfristig könnte sich das aber noch ergeben.

André Bank ist Türkei-Experte am GIGA Institut für Nahost-Studien. Er beschäftigt sich vor allem mit Regionalkonflikten und Herrschaftsformen im Nahen Osten.