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"Ich werde weiterspielen, so oder so"

23. Oktober 2020

Nach Ansicht des IPC ist Barbara Groß nicht berechtigt, bei den Paralympics in Tokio anzutreten. Die Rollstuhlbasketball-Nationalspielerin verrät erstmals, wie sie mit der schwierigen Situation umgeht.

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Nations Cup Köln - Deutschland - Spanien - Barbara Gross
Bild: Mueller Laschet/Beautiful Sports/picture-alliance

Die Nachricht traf sie wie ein Keulenschlag. "Ich war für mehrere Tage in einem Schockzustand", sagt Barbara Groß. "Ich konnte nicht glauben, was da gerade passiert war." Ende Juli erfuhr die deutsche Rollstuhlbasketball-Nationalspielerin, dass sie bei den auf 2021 verschobenen Paralympischen Sommerspielen in Tokio nicht antreten dürfe. Der Grund: Ihr Handicap reiche nicht aus, um nach den Kriterien des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC) an den Spielen teilzunehmen.

Die Hiobsbotschaft erreichte Groß in der US-amerikanischen Stadt Tuscaloosa, wo die 26-Jährige an der Universität von Alabama Marketing studiert und für das Uni-Team Rollstuhlbasketball spielt. Viel Zeit zum Grübeln habe sie wegen ihres engen Terminplans nicht gehabt, sagt Groß im DW-Exklusivinterview. Das habe ihr über den ersten Schock hinweggeholfen - genauso wie die große Solidarität innerhalb der deutschen Nationalmannschaft: "Ich habe einfach ein unglaublich tolles Team. Innerhalb von zwei Stunden hatte ich alle Mitspielerinnen und Trainer am Telefon. Alle sagten, wie sehr sie mich unterstützen würden."

Fünf Medaillen bei Großereignissen

Groß gehört seit fünf Jahren zum Nationalkader. Bei den Paralympics in Rio de Janeiro 2016 gewann sie mit dem deutschen Team Silber, bei der Weltmeisterschaft 2018 Bronze. Außerdem hat sie bei Europameisterschaften einen kompletten Medaillensatz geholt: Gold 2015, Silber 2017, Bronze 2019. Neben Groß wurden weltweit acht weitere Rollstuhlbasketballerinnen und -basketballer aussortiert. Auch sie waren zuvor für ihre Länder bei internationalen Großereignissen und auch bei der Qualifikation für die Paralympics in Tokio angetreten, ohne dass der Grad ihrer Behinderung beanstandet worden war. Auch sie fielen durch das Sieb des sogenannten IPC-"Classification Code".

Nations Cup Cologne | Spanien vs. Deutschland | Barbara Gross
Barbara Groß ist seit 2015 eine feste Größe im Team der deutschen Rollstuhlbasketballerinnen Bild: picture-alliance/dpa/G. Mueller-Laschet

Die Widerspruchsverfahren laufen, sie können bis zu sieben Monate lang dauern. "Am Ende kann ich es nicht beeinflussen. Es ist die Entscheidung des Komitees, das meinen Antrag prüft und bewertet, ob ich zugelassen werde oder nicht", sagt Barbara Groß. "Ich habe alles gemacht, was ich machen kann. Im Moment trainiere ich einfach weiter, als würde es doch noch klappen." Die emotionale Belastung lasse sich nicht leugnen: "Gerade Ende August, Anfang September, in der Zeit, in der die Paralympics eigentlich hätten stattfinden sollen, habe ich oft darüber nachgedacht: Was mache ich, wenn das jetzt negativ ausgeht, wie gehe ich damit um?"

Von weltweiter Solidarität beeindruckt

Auch Mareike Miller, Kapitänin der deutschen Nationalmannschaft und Mit-Initiatorin der Proteste gegen den Ausschluss, empfindet den Schwebezustand als "eine anstrengende, belastende Situation": "Wir warten und warten darauf zu erfahren, wer nun mit uns bei den paralympischen Spielen antreten darf und welche Regularien hier zugrunde liegen." Das langwierige Prozedere und die mangelnde Kommunikation der Verbände zehrten an den Kräften, sagt Miller der DW. "Dabei brauchen wir diese eigentlich gerade jetzt besonders." Schließlich sorge die Corona-Pandemie auch im Rollstuhlbasketball für reichlich Ungewissheit, mehrfach wurde der Saisonstart verschoben. Auch herrsche "noch immer etwas Unklarheit, wie und ob die Paralympischen Spiele in Tokio 2021 wirklich sicher umgesetzt werden können". 

Nicht nur in Deutschland reagierte die Szene empört auf den Ausschluss der Spielerinnen und Spieler. "Die Rollstuhlbasketball-Welt ist eher eine kleine, jeder kennt so gut wie jeden", sagt Barbara Groß. "Von daher habe ich mit Solidarität gerechnet. Aber dass sie so groß war, hat mich sehr positiv überrascht und auch beeindruckt." Mehr als 19.000 Menschen unterzeichneten eine Petition des aussortierten Briten George Bates, in der verlangt wird, den Klassifizierungscode des IPC zu ändern. 14 Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaften, darunter das deutsche Frauen- und das Männerteam, sowie 23 Mitglieder anderer Nationalteams forderten das IPC auf, alle für Tokio qualifizierten Athleten auch dort starten zu lassen. Die betroffenen Sportler würden als "Spielball" im Streit des IPC mit dem Rollstuhlbasketball-Weltverband IWBF benutzt, hieß es.

IPC stellt Ultimatum

Das Internationale Paralympische Komitee lehnte bislang direkte Gespräche mit, wie es hieß, "unabhängigen Athletenvertretungen" ab, sondern reagierte mit einem "Offenen Brief" im Internet. Darin geben IPC-Präsident Andrew Parsons und Athletensprecherin Chelsea Gotell die alleinige Schuld an der Eskalation dem Verband IWBF. Der habe es trotz mehrfacher Aufforderung als einziger Weltverband im Behindertensport versäumt, den bereits 2015 verabschiedeten Klassifizierungscode vollständig umzusetzen. Sollte dies nicht bis Ende August 2021 geschehen sein, so das Ultimatum des IPC, werde Rollstuhlbasketball aus dem Programm der Paralympics 2024 in Paris gestrichen. Die IWBF hat die Vorwürfe des IPC wiederholt zurückgewiesen.

In dem "Offenen Brief" des IPC hieß es zudem, es habe ein "ähnliches Szenario" gedroht wie beim Skandal vor 20 Jahren bei den Paralympics 2000 in Sydney. Damals hatte sich herausgestellt, dass zehn der zwölf 12 spanischen Spieler im Basketball für Menschen mit geistiger Behinderung überhaupt nicht behindert waren - zweifellos ein Fall von Sportbetrug. Spielt es für das IPC keine Rolle, dass es sich im Gegensatz zum Vorgang im Jahr 2000 diesmal um Rollstuhlbasketballer handelt, die nachweislich ein Handicap haben und deren Klassifizierung lange Zeit nicht beanstandet wurde?

"Das IPC bestreitet nicht die Tatsache, dass diese Athleten eine Behinderung haben, sie haben eindeutig eine", antwortet das Internationale Paralympische Komitee auf Anfrage der DW. "Die fraglichen Athleten haben jedoch keine Behinderung, die in die zehn anerkannten Klassen von Beeinträchtigungen passt, die zu einem Start im paralympischen Sport berechtigen." Das IPC macht den Betroffenen wenig Hoffnung auf eine Kehrtwende: "Nichtberechtigten Athleten wird es nicht erlaubt, bei den Paralympischen Spielen in Tokio anzutreten."

"Rollstuhlbasketball hat mich unglaublich weitergebracht"

Barbara Groß wurde 2002 als Achtjährige bei einem Autounfall schwer verletzt. Vorher hatte sie viele Sportarten ausprobiert, "Hauptsache Bewegung", so Groß. Nach dem Unfall wurde sie mehrfach operiert, die Knochen- und Knorpelschäden an Knie und Fußgelenk waren jedoch irreparabel. Auch wenn sie im Alltag keinen Rollstuhl benutzen muss, hat Barbara Groß weiterhin Schmerzen, ihre Gelenke sind nur eingeschränkt bewegungsfähig.

"Seit dem Unfall konnte ich nie wieder 'Fußgänger-Sport' machen", sagt die 26-Jährige. Ihre Mutter habe sie schließlich zum Rollstuhlbasketball gebracht. "Das gehört definitiv zu den wichtigsten Dingen, die mir im Leben passiert sind. Rollstuhlbasketball hat mich einfach unglaublich weitergebracht. Ich habe sehr früh sehr viel über das Leben gelernt." Etwa anderen zu helfen, die noch stärker eingeschränkt sind.

Sommer-Paralympics 2016 in Rio de Janeiro | Basketball Deutschland, Frauen
Bei den Paralympics 2016 in Rio gehörte Groß (4.v.l.) zum deutschen Team, das Silber gewannBild: Getty Images/AFP/Y. Chiba

Das ist auch die Grundidee der Inklusion, für die Rollstuhlbasketball jahrzehntelang als Vorzeigesportart galt. Ein Punktesystem sorgt dafür, dass durch den Einsatz Minimalbehinderter keine Wettbewerbsverzerrung entsteht. Auf nationaler Ebene dürfen sogar Nicht-Behinderte im Rollstuhl mitspielen. Die Entscheidung des IPC werde für die Inklusion im Rollstuhlbasketball wohl nicht folgenlos bleiben, erwartet Barbara Groß: "International ändert sich halt etwas. Da stellt sich die Frage, wie dann die nationalen Ligen auf die finalen Entscheidungen reagieren werden. Davon hängt ab, wie inklusiv der Sport bleibt."

In fünf Wochen stehen für Groß die Prüfungen an der Uni an. Danach will sie nach Deutschland zurückkehren und weiterhin Rollstuhlbasketball spielen - "unabhängig davon, ob ich künftig auch international dabei sein darf oder nicht", so Groß. "Es macht mir einfach Spaß. Für mich ist Rollstuhlbasketball eine der interessantesten Sportarten überhaupt, auch wegen der Vielfältigkeit der Mitspieler."

Den Traum von einem Start in Tokio hat Barbara Groß noch nicht aufgegeben: "Solange ich keinen negativen Bescheid auf den Protest bekomme, sage ich mir selber einfach, dass ihm stattgegeben wird." Und wenn nicht? "Dann muss ich irgendwie lernen, mit dem Ergebnis umzugehen."

DW Kommentarbild Stefan Nestler
Stefan Nestler Redakteur und Reporter