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Evangelikale im Aufwind

7. Januar 2010

Sogar Priester hatten sich am Genozid beteiligt. Immer mehr Ruander wenden sich von den traditionelllen christlichen Kirchen ab und schließen sich neuen Kirchen an. Besonders die Born-Again-Kirchen finden viele Anhänger.

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Kirchenchor in Ruanda (Bild: Christine Harjes)
Fühlen sich Gott ganz nah: Born-Again-ChristenBild: Christine Harjes

Sonntagmorgen in einer protestantischen Kirche in Kigali: Der Pastor ruft sein Gebet in den kargen Raum, die Gottesdienstbesucher strecken die Arme Richtung Decke und reden mit geschlossenen Augen durcheinander. Einige brechen weinend zusammen. Alles erinnert eher an eine Turnhalle als an eine Kirche. Ein Kreuz oder eine Kanzel gibt es nicht. Seit sechs Uhr morgens beten und singen die Gläubigen hier in einer der vielen ruandischen Born-Again-Kirchen. Mehr und mehr Ruander bezeichnen sich als "Born-Again" - als wiedergeborene Christen. Seit dem Ende des Genozids werden die charismatischen evangelischen Kirchen immer beliebter.

Trost bei neuen Gemeinden

Der deutsche Pastor Jürgen Zimmermann hat bis 1994 für die Lutherische Kirche in Ruanda gearbeitet, dann musste er fliehen. Nach dem Völkermord ist er oft nach Ruanda zurückgekehrt. Er sieht eine Verbindung zwischen dem Zulauf zu den Born-Again-Kirchen und dem Genozid: "Das hängt zum Teil damit zusammen, dass man die etablierten Kirchen als nicht auf der Höhe empfunden hat, als sich die Ereignisse anbahnten und geschahen", sagt Zimmermann. Viele Leute hätten dann ihren Trost bei den neuen Kirchen gesucht. "Diese Kirchen hatten den Vorteil, dass sie keine belastete Geschichte in Ruanda hatten."

Schuldige Priester

Schädel in einer Gedenkstätte (Bild: AP)
Auch in der Kirche von Nyamata wurden Tutsi massakriertBild: AP

Bis zum Völkermord war Ruanda das katholischste Land in Afrika. Aber grade unter den katholischen Priestern haben sich viele am Genozid mitschuldig gemacht. Der bekannteste Fall ist der des Priesters Athanase Seromba. Er wurde vom UN-Strafgerichtshof in Arusha im März 2009 in einem Berufungsurteil zu lebenslanger Haft verurteilt. Seromba wird für den Tod von 1500 Tutsi verantwortlich gemacht, die sich in seiner Kirche in Nyange versteckt hatten. Der Priester soll einen Baggerfahrer angewiesen haben, die Kirche abzureißen. Der heute 30jährige Faustin war mit seiner Familie im Exil in der Demokratischen Republik Kongo, als das Massaker passierte. Die gesamte Familie seiner Mutter kam in der Kirche von Nyange ums Leben.

Enttäuscht von der katholischen Kirche

Faustins Eltern wurden nach dem Genozid von Hutu-Milizen im Kongo umgebracht. Nach dem Völkermord ist der Jurist vom Katholizismus zum Protestantismus übergetreten. Er gehört zu den vielen Wiedergeborenen Christen in Ruanda. "Als ich gesehen habe, wie der Genozid in Ruanda abgelaufen ist und wie die Priester ihre Gemeinden betrogen haben und wie die Menschen in den Kirchen gestorben sind, hat das meine Entscheidung beeinflusst, mich von der katholischen Kirche zu entfernen. Schließlich sei er Born-Again geworden. "Ich glaube, dass der Genozid einen Einfluss darauf hatte", sagt Faustin.

Faustin hat es mit Hilfe seines Glaubens geschafft, den Tätern zu vergeben. In seiner Gemeinde beten und singen Hutu und Tutsi gemeinsam. Hier spielt die Ethnie keine Rolle. "Gott ruft uns zum Abendmahl mit seinem Sohn. Und wenn man zum Abendmahl mit seinem Sohn kommt, gibt es keine Hutu, gibt es keine Tutsi, keine Twa, nicht weiß, nicht schwarz", sagt Faustin. Es gebe nur das Kind Gottes. "Wenn ich zum Abendmahl Gottes gerufen werde, und jemand der getötet hat, wird zum selben Abendmahl gerufen, dann teilen wir nicht die Geschichte des Tötens, sondern wir teilen, dass Gott uns vergeben hat. Dass wir von Gott akzeptiert wurden, dass wir Gottes Kinder geworden sind."

Teurer Glaube

Gottesdienst (Bild: Christine Harjes)
Gottesdienst mit viel EmotionenBild: Christine Harjes

Gottes Kind zu werden, koste bei den Born-Again-Kirchen einen zu hohen Preis, sagen viele Kritiker. Die Gläubigen zahlen hier in der Regel ein Zehntel ihres Jahreseinkommens an die häufig von US-Amerikanern geführten Gemeinden. Oft auch die, die ohnehin schon kaum genug Geld zum Überleben haben. Pastor Zimmermann sieht ein weiteres Problem bei den neuen Kirchen. Er spricht vom "Evangelium des Wohlstandes". "Da wird abgeleitet, dass Leute, die besonders gläubig sind, mit Wohlstand belohnt werden" sagt Zimmermann. Da stelle sich dann die Frage, wie Leiden und Misserfolg unter dieser Prämisse theologisch zu bewerten seien. "Ich glaube, dass die Bibel uns da einen anderen Weg weist. Ich glaube, dass grade das Beispiel Jesu Christi da ein viel nuancierteres ist und dass es gerade da den neuen Kirchen gut tut, genauer auf die Bibel zu achten."

Genau auf die Bibel zu achten – für die Gemeindemitglieder in der Halle in Kigali bedeutet das, die Bibel Wort für Wort auszulegen. Fast alle, die hier in den Holzbänken sitzen, halten ihre Bibel aufgeschlagen in den Händen. Die Gottesdienstbesucher hören der Predigt der Pastorin aufmerksam zu und schreiben Anmerkungen auf das dünne Bibel-Papier. Es ist schwer zu sagen, ob sie trotz oder grade wegen des Genozids so gläubig sind.

Autorin: Christine Harjes
Redaktion: Dirk Bathe