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Beschwerde-Rekord durch Satire und Massenpanik

18. Oktober 2011

In Deutschland soll der Presserat dafür sorgen, dass journalistische Standards eingehalten werden. Er ist ein Organ zur Selbstkontrolle, dem sich fast alle Verlage angeschlossen haben - trotzdem gibt es Regelverstöße.

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Plenum des Deutschen Presserats (Foto: Leube)
Bild: Leubner

So viele Menschen wie im letzten Jahr haben sich noch nie über deutsche Presseberichte geärgert. 1661 Beschwerden erreichten den Deutschen Presserat, das Selbstregulierungs-Organ der deutschen Zeitungen und Zeitschriften - 30 Prozent mehr als im Jahr 2009. Der neue Rekord in Sachen Leserunmut ist aber nicht unbedingt ein Anzeichen dafür, dass es mit der Qualität im Printjournalismus rapide bergab geht. Denn es waren vor allem zwei Massenbeschwerden, die sich in der Post des Gremiums türmten.

Teilnehmer versuchen auf der Loveparade 2010 nach einer Panik das gesperrte Gelände zu verlassen (Foto: AP)
In ihrer Berichterstattung über die Massenpanik auf der Loveparade schlugen einige Medien über die SträngeBild: AP

Das Titelblatt des Satiremagazins Titanic zeigte im April 2010 einen Priester, der vor einem Gekreuzigten kniet und den Gedanken an eine Fellation nahelegt - das führte zu 200 Beschwerden. 177 waren es wegen der Berichterstattung der Bild-Zeitung über die Massenpanik bei der Love-Parade im Juli 2010 in Duisburg. Dabei wurde ein Video des Online-Auftritts der Boulevardzeitung kritisiert, bei dem man die Opfer auf dem Boden liegen sah, sowie Verletzte, die gerade vom Notarzt versorgt wurden.

Satire darf sein

Titelbild der Zeitschrift Titanic mit dem damiligen Bundeskanzler Helmut Kohl
Geht gern an die Grenze - Das Satiremagazin "Titanic"Bild: TITANIC/Caricatura

Den Geistlichen beim mutmaßlichen Oralverkehr befand der Presserat im Einklang mit seinen Statuten. Auch bei dem Unglücks-Video sahen die Mitglieder des Presserats keinen Verstoß gegen den eigenen Kodex. Ein weiterer Bericht von Bild-Online zu der Massenpanik während der Love-Parade führte allerdings zu einer öffentlichen Rüge. Die Redaktion hatte das 21. Opfer von Duisburg deutlich erkennbar dargestellt und die Todesumstände "unangemessen sensationell" im Detail geschildert - durch die Erläuterungen eines Arztes. Die Persönlichkeitsrechte seien verletzt worden, sorgte sich der Presserat.

"Im skandinavischen und angelsächsischen Raum hat der Persönlichkeitsschutz von Opfern lange keinen so großen Stellenwert wie bei uns", sagt der Sprecher des Presserats, Bernd Hilder. Bildergalerien von Unglücksopfern seien dort häufiger zu sehen und würden kaum zu Unmut führen. "Wir haben entschieden, dass die nicht gezeigt werden dürfen und dabei bleibt es."

Qualitätssicherung durch Selbstkontrolle

In Deutschland kann sich jeder Bürger beim Presserat beschweren, wenn er findet, dass die Berichterstattung in Printprodukten oder im Internet diskriminierend, unsauber oder ungerecht ist. Das Gremium, das sich aus Verlegern und Journalisten zusammensetzt, muss sich vor allem damit beschäftigen, dass Leser die Pflicht zur journalistischen Sorgfalt vermissen (441 Beschwerden 2010), oder dass sie die Persönlichkeitsrechte (369) oder den Jugendschutz (283) verletzt sehen. Sind die Eingaben begründet, hat der Rat unterschiedliche Möglichkeiten zu reagieren. Er kann einen Hinweis geben, eine Missbilligung aussprechen, nicht öffentlich rügen, oder - das ist das schärfste Mittel - eine öffentliche Rüge aussprechen. Die muss dann auch im Blatt abgedruckt werden. Das ist vergangenes Jahr 34 mal geschehen.

Ärger mit "Bild"

Die drei Tageszeitungen 'Die Welt', 'Hamburger Abendblatt' und 'Bild' des Axel-Springer-Verlages liegen an einem Zeitungskiosk aus (Foto: ap)
Boulevardblätter geraten öfters ins Visier des PresseratsBild: AP

Wenn es um Persönlichkeitsrechte geht, dann betrifft dies aber nicht nur Opfer, sondern auch mutmaßliche oder verurteilte Täter. "Das trifft häufig auf Unverständnis", beobachtet Presserats-Geschäftsführer Lutz Tillmanns. Kürzlich konnte er an seinem Arbeitsplatz erleben, wie es sich auswirkt, wenn Deutschlands mächtigstes Blatt eine Rüge des Presserats ungerechtfertigt findet. "Wir haben im Februar 2011 die Bild-Zeitung nicht öffentlich gerügt, weil sie einen mutmaßlichen Kindesentführer abgebildet hatte", erinnert sich Tillmanns. Dann, anlässlich der Prozesseröffnung schlug Bild zurück: "Ist der Schutz eines Täters wichtiger als die Berichterstattung über eine schwere Straftat?", fragte das Blatt und forderte seine Leser dazu auf, dem Presserat die Meinung zu sagen - servicegerecht mit Postanschrift, E-Mail und Telefonnummer. Das monierte Foto wurde erneut abgedruckt. Über 400 Zuschriften gingen ein, zwei Tage lang klingelte das Telefon unablässig beim Presserat. "Damals hätte man mich nicht nach meiner Meinung fragen dürfen", urteilt Tillmanns heute gelassener, "aber letztlich hat es den Presserat doch ziemlich bekannt gemacht."

Autor: Heiner Kiesel
Redaktion: Arne Lichtenberg