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Tief im Wald

Tillmann Bendikowski26. August 2013

Wir stellen jede Woche ein Bild vor und erzählen seine Geschichte. Diesmal gehen wir zurück in die Zeit um 1900: Ein Bild von einem deutschen Mythos

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Illustration - Hänsel und Gretel (Foto: Ullstein)
Bild: ullstein

Hänsel und Gretel verlaufen sich im Wald. So weit, so schlecht: Von den eigenen Eltern ausgesetzt, ziehen sie schutzlos in der Dunkelheit umher, fallen einer menschenfressenden Hexe in die Hände und können zum Schluss ihr Leben nur mit viel Glück retten. Ein koloriertes Sammelbild, vermutlich um das Jahr 1900 entstanden, illustriert diese schaurig-schöne Geschichte. Sie zählt nicht nur zu den berühmtesten Märchen der Brüder Grimm, sondern ist zugleich eine der bekanntesten Erzählungen zum Mythos vom "deutschen Wald": Wer an Hänsel und Gretel denkt, denkt an den Wald. Und an ihren Wald dachten die Deutschen in der Geschichte stets so hingebungsvoll, dass sie in aller Welt geradezu bis heute als "Waldvolk" gelten.

Dazu trug zunächst maßgeblich ein Römer bei: Der Geschichtsschreiber Tacitus beschreibt in seiner "Germania" die Germanen als Bewohner eines Landes mit unwirtlichen Wäldern. In diesen suchten sie Schutz vor Feinden, in ihnen verehrten sie an heiligen Hainen ihre fremd erscheinenden Götter. Dass in der Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr. die Römer tatsächlich auch in den Wäldern Germaniens von Arminius und seinen Verbündeten angegriffen und vernichtend geschlagen wurden, machte in der ganzen römischen Welt das "Waldvolk" berühmt-berüchtigt.

Tatsächlich fühlten sich die Deutschen bis in die Neuzeit hinein "ihrem" Wald stets besonders verbunden. Gerade in der Romantik wurde er zum mythischen Fluchtpunkt vor allem der Stadtbevölkerung. Der deutsche Nationalismus griff diese Denkfigur auf – der Wald wurde zum "typisch deutschen Ort" und damit schlicht zur Seele des deutschen Gemüts erhoben. Die Nazis pervertierten schließlich diese Liebe zum Wald mit ihrer Blut-und-Boden-Ideologie.

Deshalb erschien der deutsche Wald nach 1945 lange ein wenig verdächtig. Doch die alte Sehnsucht blieb, 1960 diagnostizierte der Schriftsteller Elias Canetti: "Die Deutschen suchen den Wald, in dem ihre Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlen sich eins mit den Bäumen." Deshalb war das Leiden am "Waldsterben" geradezu von einem nationalen Aufschrei begleitet: „Der Wald stirbt!“ Diese Diagnose war das zentrale Motiv für die Herausbildung der westdeutschen Umweltbewegung der 1980er Jahre. Er ist dann bekanntlich doch nicht gestorben, auch wenn er heute über weite Strecken längst kein "Wald" mehr ist, sondern eher eine mehr oder weniger hübsche fortwirtschaftliche Produktionsstätte. Den alten deutschen Wald gibt es nicht mehr – aber sein Mythos lebt.