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Blasphemie-Paragraf

Michael Gessat21. September 2012

Braucht Gott die schützende Hand unserer Gesetze? Das ist wohl kaum nötig, meinen die deutschen Gesetzgeber. Der Paragraf, der sich mit Gotteslästerung befasst, ist verhältnismäßig lax - und umstritten.

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Im allgemeinen Sprachgebrauch ist oft vom "Blasphemie- oder Gotteslästerungsparagrafen" die Rede, wenn es um Paragraf 166 des Strafgesetzbuches (StGB) geht - sachlich korrekt ist das allerdings nicht. Denn die Beschimpfung oder Lästerung Gottes selbst oder irgendwelcher Propheten ist spätestens seit 1969 nicht mehr strafbar - damals wurde Paragraf 166 grundlegend reformiert.

Bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe drohen seitdem demjenigen, der "öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer beschimpft" - und zwar ausdrücklich nur dann, wenn das in einer Weise geschieht, "die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören".

Vom "Ärgernis" zur "Störung des öffentlichen Friedens"

Im Grunde hatten auch schon die seit 1872 geltenden Vorläuferversionen des Gesetzes eher auf die öffentliche Wirkung der Lästerung als auf die Lästerung selbst abgezielt. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts hatte sich nämlich unter europäischen Philosophen und Theologen die Auffassung durchgesetzt, dass Gott in seiner "unbedingten Souveränität" von einem Menschen gar nicht beleidigt werden kann - folgerichtig benötigt Gott selbst also auch keinen strafrechtlichen Schutz. Nach dem alten Paragrafen 166 machte man sich strafbar, wenn man durch eine Lästerung ein "Ärgernis" erregt, also eine öffentliche Aufregung verursacht hatte - mit der "Störung des öffentlichen Friedens" im neuen Gesetzestext ist demgegenüber offenbar eine viel weiter gehende Dimension der Erregung gemeint.

Gesetz kommt kaum zur Anwendung

Ab wann genau durch eine Religionsbeschimpfung der "öffentliche Friede" gestört ist, das ist letztlich Auslegungssache - und eine Frage der Abwägung gegenüber anderen Grundrechten, vor allem dem Recht auf Meinungsfreiheit. Kein Wunder, dass Paragraf 166 seit seiner Reform kaum zur  Anwendung gelangt, findet auch Henning Ernst Müller, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Regensburg: "Es sind in den vergangenen Jahren etwa zehn Personen verurteilt worden wegen dieser Beschimpfungsnorm 166 StGB, sie hat also eine ganz geringfügige praktische Bedeutung." Wenn es überhaupt einmal eine Anzeige gäbe, dann würde in den allermeisten Fällen schon die Staatsanwaltschaft das Verfahren wieder einstellen.

Aktion vor dem Köner Dom zur Unterstützung der russischen Gruppe "Pussy Riot" (Foto: picture-alliance/dpa)
Störungen in Gotteshäusern - auf dem Bild Nachahmer der russischen Gruppe Pussy-Riot im Kölner Dom - können bestraft werdenBild: picture-alliance/dpa

"Blasphemie" im Namen der Kunst

1994 verbot das Ordnungsamt Trier auf Antrag des örtlichen Bistums und mit Bezug auf Paragraf 166 die Aufführung eines Musicals, in dem eine Figur mit dem Namen "Marie" durch Sperma auf einer Klobrille befruchtet wird und dann von einer "Jungfrauengeburt" spricht - die Rechtmäßigkeit des Verbotes wurde anschließend in mehreren Gerichtsinstanzen bestätigt. In den meisten Fällen von "künstlerisch" begründeten Provokationen gegen religiöse Werte sehen deutsche Gerichte keine strafbaren Handlungen.

Wenn sich eine religionsbeleidigende Aktion nicht auf Kunstfreiheit oder Satire berufen kann, kommt Paragraf 166 schon eher zur Anwendung. 2006 wurde ein Mann zu einem Jahr Haft auf Bewährung und zu Sozialarbeit verurteilt, nachdem er Toilettenpapier mit dem Wort "Koran" bedruckt und dieses verteilt hatte.

Veränderte Sicht der Gesellschaft

Bei Angriffen gegen das Christentum spielt die veränderte gesellschaftliche Wahrnehmung in Deutschland auch juristisch eine Rolle: 1984 wurde eine Frau aus Göttingen in zwei Instanzen für die Aussage verurteilt, die christlichen Kirchen gehörten zu den "größten Verbrecherbanden" der Welt. 2011 weigerte sich eine Berliner Richterin, das Verfahren gegen einen Blogger zu eröffnen, der die katholische Kirche als "Kinderficker-Sekte" bezeichnet hatte. Die Begründung: Nach den zahlreichen in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Fällen von Kindesmissbrauch durch katholische Priester sei der Beitrag des Bloggers nicht geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören.

"Ratze und Meise" - Sketch auf der Stunksitzung 2006 im Kölner Karneval (Foto: A.&W. Bartscher/dea-NewsInfo.Net)
Die "Stunksitzung" im Kölner Karneval nimmt regelmäßig die katholische Kirche aufs KornBild: A.&W. Bartscher/dea-NewsInfo.Net

Paragraf 166 verschärfen – oder ganz abschaffen?

Schon im Jahr 2000 hatten konservative Politiker erfolglos einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der die Bedingung der "Störung des öffentlichen Friedens" wieder streichen, den Paragrafen 166 also wieder verschärfen wollte. Und auch jetzt fordern dies einige katholische Politiker und Geistliche erneut, um gewissermaßen eine Chancengleichheit mit dem Islam herbeizuführen, erläutert Henning Ernst Müller: "Wenn jetzt eine Religion beschimpft wird, deren Anhänger darauf ganz besonders emotional oder ganz besonders aggressiv reagieren, dann könnte so eine Beschimpfung plötzlich geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören." Eine Religionsgemeinschaft, deren Anhänger sehr tolerant seien, werde dagegen praktisch nicht von der Rechtsnorm geschützt.

Ein paradoxer Effekt und ein Dilemma für Gesetzgeber und Behörden, findet Müller - trotzdem hält der Jurist eine Verschärfung des Paragrafen für keine gute Idee. Würde man das Kriterium der Störung des öffentlichen Friedens streichen, dann habe man gar keinen Anhaltspunkt mehr für die Abwägung zwischen vermeintlicher Beleidigung und Meinungsfreiheit: "Dann hängt das nur noch alleine ab davon, was der Richter für besonders schimpflich hält." Für Müller würde das keine Verbesserung der Norm bedeuten, sondern eine Verschlimmbesserung: "Meine persönliche Auffassung ist: die Norm sollte man ganz streichen."

Henning Ernst Müller, Professor am Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie Universität Regensburg (Foto: picture-alliance/dpa)
Prof. Henning Ernst Müller, Strafrechtler von der Universität RegensburgBild: picture-alliance/dpa