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Blick nach vorn ins Mittelalter

3. Oktober 2011

Ohne Bagger, ohne Kran, ohne Strom: Eine ziemlich verrückte Großbaustelle entsteht am Bodensee. Gebaut wird eine Klosterstadt - nach rund 1000 Jahre alten Plänen. Bewerber für die Knochenarbeit gibt es mehr als genug.

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Modell in Aachen, St. Galler Klosterplan Bild: Bert Geurten
Bild: Bert Geurten

Ein beeindruckendes Renaissanceschloss samt Schlosskirche, die spätgotische St. Martinskirche und stattliche Häuser im Stadtzentrum: Der Ort Meßkirch in der Nähe des Bodensees hat touristisch gesehen schon etwas zu bieten. Doch im nächsten Jahr kommt eine kuriose Attraktion hinzu, die nach Meinung der Stadtväter nicht nur Touristen aus ganz Deutschland anlocken wird. Dann beginnen nämlich etwa 40 mittelalterlich gekleidete Steinmetze, Maurer oder Schreiner mit dem Bau einer Klosterstadt - vor den Augen eines staunenden Publikums.

St. Galler Klosterplan, um 800 auf der Insel Reichenau angefertigt Quelle: Wikipedia; Diese Bild- oder Mediendatei ist gemeinfrei, weil ihre urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.
Die Vorlage: der St. Galler KlosterplanBild: gemeinfrei

Vom Plan zum Kloster

Eine große Klosteranlage ist für Meßkirch historisch nicht belegt. Zwar spielte der Ort im 8. Jahrhundert bei der Christianisierung der Region eine wichtige Rolle, er war aber hauptsächlich Sitz weltlicher Fürsten. Auch der Bauplan der jetzt dort entstehenden Klosterstadt stammt nicht aus Meßkirch sondern aus dem schweizerischen St. Gallen. Seit über 1000 Jahren gehört er zu den kostbarsten Schätzen der Klosterbibliothek. Im 9. Jahrhundert von Mönchen der Bodenseeinsel Reichenau angefertigt, zeigt der Plan ein idealisiertes Schema einer geistlichen Stadt mit Abteikirche als Mittelpunkt: "Es war der Masterplan für Hunderte von Klöstern in Europa. Die Fertigstellung der Klosterstadt steht bei uns allerdings weniger im Mittelpunkt, sondern mehr das Bauen", sagt Bert Geurten, der Vorsitzende des Vereins 'Karolingische Klosterstadt'. "Es ist uns wichtig zu zeigen, dass man im frühen Mittelalter über hervorragende Handwerker und hervorragende Bauleute verfügte. Das wollen wir in erster Linie präsentieren - und das fertige Bauwerk ist erst der zweite Schritt."

Burg als Vorbild

Der Bau einer Burg nach den Prinzipien der experimentellen Archäologie mit Techniken des 13. Jh unter der Leitung von Michel Guyot ist seit 1997 eine Touristenattarktion in Frankreich. Foto undatiert: Guedelon (commune de Treigny, Yonne) / C
Touristenattraktion: das Burgbauprojekt im burgundisschen GuédelonBild: picture alliance/akg

Das frühe Mittelalter hat Bert Geurten schon als Jugendlichen fasziniert: In einer Ausstellung über Karl den Großen sah der damals 17Jährige ein Klostermodell nach dem Plan von St. Gallen. Das schien auch Jahrzehnte danach in seinem Kopf herumzuspuken, als Geurten den französischen Ort Guédelon besuchte. Dort wird seit 1997 eine idealtypische Burg des Mittelalters mit den Techniken der damaligen Zeit errichtet. "Als ich Guédelon gesehen habe, dachte ich, das ist eine tolle Sache, dem könnte man nacheifern. Und da fiel mir die Klosterstadt von St. Gallen ein, die im Original nie gebaut worden ist. Die möchte ich bauen."

Sieg der "Verrückten"

Arbeiter stellen in der Schmiede von Guedelon auf dem Gebiet der französischen Gemeinde Treigny Werkzeuge und Nägel für den Bau einer Burg her (Foto vom 16.8.2010). Foto: Imke Hendrich dpa/lrs
Arbeiten wie im MittelalterBild: picture alliance/dpa

Die Skepsis der Pariser Behörden gegen das Projekt Guédelon war zunächst sehr groß; die Initiatoren wurden sogar für verrückt erklärt. Doch die Verfechter der experimentellen Archäologie setzten sich mit ihrer Vision durch – und die "verrückte" Baustelle hat sich mittlerweile zur zweitgrößten Touristenattraktion im Burgund gemausert. Den gleichen Effekt erhofft Bert Geurten für sein Klosterprojekt in Meßkirch. Nachdem dessen Finanzierung jetzt geklärt ist, wird im Frühjahr 2012 der erste Spatenstich getätigt. Und vom Sommer an können interessierte Touristen den Fortschritt der Bauarbeiten an der Klosterstadt vor Ort mitverfolgen.

Miteinander der Jahrhunderte

Beim Einsatz alter Arbeitstechniken muss nicht unbedingt auf Errungenschaften des 21. Jahrhunderts verzichtet werden, wie die Schuhe einiger Handwerker in Guédelon zeigen Bild: Bert Geurten ***ACHTUNG: Die Bilder dürfen nur im Zusammenhang mit diesem Projekt verwendet werden.***
Altes Handwerk, neue SchuheBild: Bert Geurten

Vom Frühjahr bis zum Herbst werden 40 Handwerker auf der Baustelle wohnen und arbeiten. Ihnen sollen die Touristen über die Schulter sehen und Fragen zu handwerklichen Dingen stellen können. Die Begeisterung für das Klosterprojekt sei so groß, dass viermal so viel Bewerber wie Stellen vorhanden seien. Ähnlich wie in Guédelon werden die Arbeiter im Stil des frühen Mittelalters gekleidet sein. Dass alles auch seine historische Richtigkeit hat, dafür sorgt ein wissenschaftlicher Beirat, in dem, so Bert Geurten, die "hervorragendsten Wissenschaftler Europas auf diesem Gebiet" versammelt sind. Und wie verträgt sich das mittelalterliche Bauen mit den aktuellen Schutzbestimmungen? "Was das 21. Jahrhundert erfordert an Sicherheitsmaßnahmen, ob das Sicherheitsschuhe sind, ob das Helme sind oder anderes, das werden wir natürlich erfüllen", sagt der Vorsitzende des Klosterbauvereins. "Aber man kann da auch Kompromisse schließen. In Guédelon sind beispielsweise die Helme unter mittelalterlichen Sonnenhüten versteckt, und Holzschuhe sind in Baden-Württemberg als Sicherheitsschuhe anerkannt, die waren im 9. Jahrhundert üblich. Also man kann durchaus 9. und 21. Jahrhundert miteinander verbinden."

Rekonstruktionszeichnung des Klosters Sankt Gallen nach dem Grundriss des Sankt Galler Klosterplans aus dem frühen 9. Jahrhundert von 1876. Quelle: J. Rudolf Rahn: Geschichte der Bildenden Künste in der Schweiz.
Rekonstruktionszeichnung des Klosters Sankt Gallen von 1876 nach dem Grundriss des Sankt Galler Klosterplans aus dem frühen 9. JahrhundertBild: gemeinfrei

Der Bau ist das Ziel

Veranschlagt für die Errichtung der Klosterstadt in Meßkirch sind etwa 40 Jahre. Mit der Realisierung des Projektes erhofft die Stadt sich eine Ankurbelung des Tourismus in der gesamten Region. Bürgermeister Arno Zwick Setzt auf eine touristische Vermarktung des Ganzen: "Meßkirch muss darauf bedacht sein, dass alle zusammen, Handel, Dienstleister, Gastronomie an einem Strang ziehen und möglichst viel Positives durch den Besucher-Magneten 'Klosterstadt' auf den Weg bringen." Wenn die Klosterstadt fertig sei, könne sie sehr vielfältig genutzt werden, sagt Bert Geurten; doch ihre Fertigstellung, so der jetzt 62Jährige, werde er wohl kaum erleben. Für ihn ist ohnehin das Bauen an der karolingischen Klosterstadt wichtiger als deren Abschluss.

Autor: Klaus Gehrke

Redaktion: Aya Bach