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Bloggen für die Freiheit

19. Juni 2011

Ihr Blog "A Tunisian Girl" war in der tunesischen Revolution eine der wichtigsten Informationsquellen. Die Deutsche Welle würdigt die Bloggerin Lina Ben Mhenni dafür mit dem Hauptpreis des Weblog-Awards "The BOBs".

https://p.dw.com/p/11aTs
Lina Ben Mhenni ist "A Tunisian Girl" (Bild: DW)
Lina Ben Mhenni ist "A Tunisian Girl"...Bild: DW

Lina Ben Mhenni ist ständig unterwegs - und immer online: Ob an der Universität Tunis, wo sie als Dozentin arbeitet, auf internationalen Konferenzen im Ausland oder bei Treffen mit Blogger-Kollegen in den Cafés der tunesischen Hauptstadt. Auch wenn sie auf Demonstrationen geht, nimmt sie Laptop und Kamera mit. Sie aktualisiert Blogeinträge oder Statusmeldungen auf Facebook. Sie postet Bilder, kommentiert Artikel und Videos, sie twittert Kurznachrichten.

Dokumentation der Demokratiebewegung

Die Bloggerin Lina Ben Mhenni an ihrem Laptop (Bild: DW)
...und nie ohne Kamera und Laptop unterwegsBild: DW/S.Mersch

Lina Ben Mhenni ist "A Tunisian Girl" – die Frau hinter dem gleichnamigen Blog, der in diesem Jahr den Hauptpreis des Blogger-Wettbewerbs "The BOBs" der Deutschen Welle erhält. Die Jury würdigt damit ihre Verdienste in der publizistischen Begleitung der tunesischen Demokratiebewegung, die im Januar zum Sturz von Diktator Zine el-Abidine Ben Ali führte und zahlreiche unzufriedene Bürger in anderen arabischen Ländern zur Nachahmung ermutigte.

Während der Massenproteste in Tunesien war das Internet zeitweise die einzige unabhängige Informationsquelle. Auslöser für die Proteste war die Selbstverbrennung eines jungen Gemüsehändlers in der Stadt Sidi Bouzid am 17. Dezember 2010, der mit dieser Aktion gegen Behördenschikane und Repressionen protestierte. Die Aktion wurde auf einem Video festgehalten und verbreitete sich über Facebook und andere Plattformen in rasantem Tempo im ganzen Land. Als kurz darauf bereits hunderte Menschen vor dem Sitz des örtlichen Gouverneurs in Sidi Bouzid protestierten, reagierte das Regime mit brutaler Härte und verhängte zugleich ein totales Nachrichtenverbot.

"Tunisian Girl" als Plattform

Screenshot des Blogs von Lina Ben Mhenni (Bild: DW)
Mit ihrem Blog überzeugt sie nicht nur die DW-Jury...Bild: Screenshot http://atunisiangirl.blogspot.com/

Um das Verbot zu umgehen, bedienten sich die Tunesier des Internets. Neben Facebook und Twitter galt Ben Mhennis Blog in arabischer, französischer und englischer Sprache dabei als eine der wichtigsten Informationsquellen und Verbreitungskanäle (http://atunisiangirl.blogspot.com). Den Begriff "Internet-Revolution" hält sie dennoch für unpassend: "Gemacht wurde die Revolution von den Menschen", erklärt die Bloggerin im Interview mit der DW und zählt auf: "Von den Menschen, die von den Sicherheitskräften mit voller Härte niedergeknüppelt wurden. Von den Menschen, die auf die Straße gingen und ihr Leben riskierten. Und vor allem von denen, die dafür mit ihrem Leben bezahlen mussten."

Diese Toten hat sie mit eigenen Augen gesehen – und ihr Schicksal im Internet publik gemacht. Gleich zu Beginn der Protestwelle war es ihr trotz zahlreicher Straßensperren gelungen, in einer Nacht- und Nebel-Aktion ins Landesinnere zu reisen, um die dortigen Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Ihre schlimmste Erinnerung, sagt sie, seien die Aufnahmen von einem jungen Demonstranten, der von der Polizei erschossen wurde: Sie hatte davon Bilder gemacht und ins Internet gestellt. "Diesen Moment werde ich nie vergessen können", erinnert sie sich. "Dieses Bild von der Leiche des jungen Mannes mit den Schusswunden, und die tiefe Trauer seiner Familie und Freunde."

"Den Menschen Gehör verschaffen"

Mehr als 200 Menschen starben laut UN-Menschenrechtskommission während der Revolution in Tunesien. Für die 28-jährige war die Brutalität des Regimes der wichtigste Grund dafür, die Revolution im Internet zu unterstützen: "Als ich sah, wie Menschen getötet wurden, war klar: Es gibt kein Zurück mehr", sagt sie. "Ich musste den Stimmen dieser Menschen und ihrer Familien irgendwie Gehör verschaffen, damit sie nicht umsonst gestorben sind." Die Bloggerin postete nicht nur Aufnahmen von Protesten und Toten im Internet. Sie ging auch selbst zum Protestieren auf die Straße und unterstütze internationale Sender mit Hilfe einer Skype-Verbindung bei ihrer Berichterstattung. Wie viele tunesische Aktivisten ging sie damit das hohe Risiko ein, festgenommen, eingesperrt oder sogar gefoltert zu werden.

Begonnen hatte ihre Blogger-Karriere im Jahr 2007, als sie während eines Studienaufenthaltes in den USA zufällig einen Artikel über Blogs entdeckte. Ihre ersten Einträge waren eher persönlicher Natur, doch mit der Zeit wurden ihre Blogs zunehmend gesellschaftskritisch und missfielen den tunesischen Zensurbehörden: Sie sperrten alle Einträge der Jahre 2007 bis Mitte 2009. Damals begann sie, gegen die Zensur anzuschreiben und regimekritische Texte zu verfassen. Dabei verbreitete sie ihre Botschaften und Inhalte jeweils über so viele Plattformen wie möglich, um die Medienkontrolle zu umgehen. Zeitweise sei sie deshalb von der Geheimpolizei beschattet worden, erzählt Ben Mhenni.

Revolution noch unvollendet

Frauen demonstrieren in Tunis (Bild: Lina Ben Mhenni)
...sondern spricht auch vielen Tunesierinnen aus dem HerzenBild: Lina Ben Mhenni

Hat sich das Engagement gelohnt? Ja, sagt Ben Mhenni, aber der Kampf für ein demokratisches Tunesien und eine transparente Zivilgesellschaft sei mit dem Sturz Ben Alis noch längst nicht vorbei. So unterlägen die klassischen Medien in Tunesien zwar heute nicht mehr einer offiziellen staatlichen Zensur. Ihr Urteil über die Kollegen der Mainstream-Medien fällt jedoch vernichtend aus: "Die Journalisten verfolgen immer noch die gleiche Strategie wie früher: Sie sind dem Stärkeren und den Entscheidungsträgern gegenüber loyal", kritisiert sie. "Die tunesische Presse ist bis heute weder unhabhängig noch unparteiisch."

Zudem werde die Jugend als Auslöser und Träger der Revolution heute nicht ausreichend in die Entscheidungsprozesse des Landes mit einbezogen, klagt Ben Mhenni. Deshalb will sie weiter bloggen, Missstände anprangen und, wenn nötig, auch wieder Protestaktionen organisieren und selbst auf die Straße gehen.

Autorin: Chamselassil Ayari
Redaktion: Rainer Sollich