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Blumen und wilde Kräuter

26. April 2011

Geschmacksverstärker kommen hier nicht auf den Teller, ebensowenig genveränderte Lebensmittel. Für die 400 Teilnehmer der Slow Food Messe in Stuttgart gibt es strenge Regeln. Der Speiseplan dagegen kennt kaum Grenzen.

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Angebot auf der Slowfood-Messe in Stuttgart: Gläser mit Honig, Marmelade, Kräuter und Blumenstrauß (Aufgenommen am 15. April 2011auf der 4. Slowfood-Messe in Stuttgart) Foto DW/Günther Birkenstock 2011
Bild: DW

Die Organisation "Slow Food" wurde 1986 ihn Italien gegründet, heute hat sie mehr als 85.000 Mitglieder in 130 Ländern. Deutschland ist mit rund 10.000 Mitgliedern ein besonders engagierter Standort. Gerade fand in Stuttgart die 4. Slow Food Messe statt, "Der Markt des guten Geschmacks" ist ihr Slogan. Und was hier an die Besucher verköstigt wurde, ist weit jenseits des kulinarischen Mainstreams. Alle zwei Meter gibt es was Neues zu probieren.

ein gedeckter Tisch mit bunten Tassen und Tellern lädt die Messebesucher zum Probieren und gemeinsamen Speisen ein (Aufgenommen am 15. April 2011 auf der 4. Slowfood-Messe in Stuttgart)Foto DW/Günther Birkenstock 2011
Gleich wird hier gemeinsam gespeist - langsam und genüsslich.Bild: DW

Reinhold Schneider zum Beispiel ist Rosenzüchter aus Creglingen, einem Ort südlich von Würzburg. Er ist mit seinen Blumen nicht auf der falschen Messe gelandet, sondern genau richtig in diesen Hallen. Vor 15 Jahren hat er die ersten Duftrosen gepflanzt und deren Blätter in der Küche verarbeitet. Familie und Freunde verlangten nach mehr. Aus den drei Rosenstöcken für heimische Selbstversuche wurden zweieinhalbtausend auf einem Hektar Fläche. In den vergangenen Jahren sind die Rosen für Reinhold Schneider zum wichtigsten Standbein geworden. Die Blumen sind nicht nur schön und duften betörend, ihre kulinarische Bandbreite ist beträchtlich.

Lasst Blumen schmecken

Rosenblätter im Korb (Foto: Fotolia)
Zugreifen und herzhaft kauen!Bild: Fotolia/Sandor Jackal

"In allen Ländern, die Rosen angebaut haben, hat es auch schon immer Rosenprodukte zum Essen gegeben", betont Reinhold Schneider. In Bulgarien und in der Türkei hatte er Rosengelee probiert. Das war ihm zu süß, also experimentierte er mit weniger Zucker und schon befand er sich mittendrin in der Rosenküche. Viele Ideen hat er umgesetzt und inzwischen hat der Rosenbauer ein umfangreiches Sortiment: "Wir stellen hier Rosenmarmelade und Rosenessig her. Für besondere Anlässe gibt es einen Rosensekt, der im Flaschengärungsverfahren hergestellt wird. Außerdem bieten wir Rosensaft, Rosengeist und Rosenlikör an." Damit nicht genug: Ein großer Milchproduktehersteller verwendet Schneiders Rosenblüten sogar für einen Joghurt.

Natur pur

Mit Blüten und Blumen, vor allem aber mit Wildkräutern, arbeitet auch Frank Friedrich aus Bad Camberg bei Frankfurt am Main. Eine schwere Krankheit brachte ihn vor zwölf Jahren dazu, seinen Lebensstil grundsätzlich zu ändern und verschiedene Ernährungsformen auszuprobieren. Vor allem Kräuter und Samen stehen seitdem auf seinem Speiseplan. Auf der Stuttgarter Messe lässt er die Besucher alles probieren, was die Natur so hergibt. Auf einem Teller hält Frank Friedrich lauter Frischgepflücktes bereit: Vogelmiere, Giersch und Wiesenschaumkraut: "Die meisten kennen es als Unkraut im Garten. Ich sage immer: essen. Dann ist es weg. Wir essen auch viele Blumen, Gänseblümchen, Schlüsselblumen, usw. Ich habe festgestellt: so gut wie nichts ist giftig."

Ohne Liebe keine Qualität

Kräuterteller: Ein Teller mit frisch gepflückten Wiesenblumen und -kräutern (Aufgenommen am 15. April 2011 auf der 4. Slowfood-Messe in Stuttgart) Foto DW/Günther Birkenstock 2011
Alles Natur- alles essbar.Bild: DW

Die Blumen und Kräuter sind für die Besucher ungewohnt, haben aber geschmacklich einiges zu bieten. Manche erinnern an Gewürze und Bittermandel, andere an Bohnen und frische grüne Erbsen, einige sogar an die intensive Aromatik von Zitrusfrüchten. Anfangs hielten ihn viele für einen Spinner, heute gibt Frank Friedrich Wildkräuterkurse und bereitet aus dem, was er auf Wiesen und Äckern sammelt, eine breite Produktpalette.

"Wir machen Naturkosmetik, also Salben und Cremes. Alles seit 10 Jahren selbst getestet. Wir haben auch Kräuteröle für Salate und Sirup. Alles handgemacht, keine Massenware und mit viel Liebe hergestellt. Das ist wichtig, sonst kriegt man die Qualität nicht hin. Das geht nur, wenn man das selbst lebt. Ich weiß nicht genau, wie es entsteht, was da genau passiert an chemischen Prozessen. Ich weiß nur, wie man es macht und sehe das Ergebnis."

Frank Friedrich betont auf der Messe zwar oft den Gesundheits- und Naturaspekt der Ernährung mit Wildkräutern. Dass es schmeckt, ist ihm aber genauso wichtig: "Die Ernährung ist ein wichtiger Teil unseres Lebens. Es geht nicht darum, willkürlich irgendetwas von der Wiese in den Mund zu stecken. Es geht um eine natürliche, gesunde Ernährung mit Genuss und Lebensfreude - das wollen wir vermitteln."

Essen ist Lebensqualität - auch im Alter

Eine 80-jährige Frau isst eine Suppe (Foto: dpa)
Sinnlich Essen auch für alte Menschen - die Physik kann's möglich machen.Bild: picture-alliance/dpa

Genussvolle Ernährung spielt auch für Thomas Vilgis eine ganz besondere Rolle. Der Physiker erforscht am Max-Planck Institut in Mainz physikalische Aspekte des Essens und hat dazu bereits Bücher veröffentlicht. Auf der Messe ist er zu mehreren Diskussionsrunden eingeladen. Durch eine sehr persönliche Erfahrung mit seinem Vater musste Vilgis feststellen, wie sehr die grundlegende Lebensqualität von gutem Essen bei der Betreuung älterer Menschen vernachlässigt wird, gerade wenn es ums Essen geht: "Ältere Menschen haben verschiedene Gebrechen: Zittern bei Alzheimer oder Schwierigkeiten gleichzeitiges Schlucken und Atmen zu beherrschen. Da muss man Konsistenzen schaffen, damit das Essen schluckbar und nicht beim gleichzeitigen Einatmen in Luftröhre gelangt. Selbst essen können ist wichtig. Das ist ein großer Wert und hat auch etwas mit Kommunikation zu tun."

Technisch möglich ist die entsprechende Verarbeitung der Lebensmittel schon längst. Nur sind bisher die wenigsten Köche in Alters- und Pflegeheimen auf die Idee gekommen, dass selber essen und Genießen einen wichtigen Lebenswert darstellen.

Thomas Vilgis betont, mit ein paar physikalischen Tricks lasse sich vieles anpassen. Und das habe nichts mit Lebensmittelveränderung zu tun: "Dünnflüssige Suppen lassen sich von alten Menschen, die zittern, nicht mehr zum Mund führen. Mit speziellen Bindemitteln kann man alle Suppen so binden, dass sie während dieser Zitterfrequenz fest sind. Erst durch die Zungenbewegung und das Schlucken werden sie wieder flüssig. Das geht."

Zwei Messebesucherinnen probieren kleine Brotstückchen mit Paste (Aufgenommen am 15. April 2011 auf der 4. Slowfood-Messe in Stuttgart) Essen, Probieren. Foto: DW/Günther Birkenstock 2011
Slowfood-Messe: Essen jenseits des MainstreamsBild: DW

Vieles ist möglich und erfordert ein bisschen Denkarbeit, sagt Physiker Vilgis. Aber es lohne sich. Und wer weiß, vielleicht kommen so in Zukunft auch alte und gebrechliche Menschen in den Genuss von Rosenblättern aus dem Hause des Rosenzüchters Reinhold Schneider, dessen Rosensekt auf der Slow Food Messe in Stuttgart übrigens zu den absoluten Rennern gehörte.

Autor: Günther Birkenstock

Redaktion: Silke Wünsch