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Bolivien sucht das "Gute Leben"

Sara Shahriari4. Juni 2012

Evo Morales, der erste indigene Präsident Boliviens, hat die Entwicklung im Einklang mit der Natur zur neuen Staatsräson erklärt. Lässt sich das "Gute Leben" mit der Rohstoffabhängigkeit des Landes vereinbaren?

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Indigene Gruppen marschieren mit der Fahne ihres Volkes bei einem Protestmarsch in Bolivien (Foto: AP)
Bild: Sara Shahriari

Der Begriff "suma quamaña" stammt aus dem Aymara und bedeutet so viel wie "gut leben" oder "gutes Leben". Daraus abgeleitet entstand das Konzept des "vivir bien", die Grundlage der neuen Verfassung des Andenstaates. Gespeist wird dieser Wertekanon aus zwei bedeutenden gesellschaftlichen Strömungen der vergangenen zwei Jahrzehnte: Zum einen die Ablehnung der kapitalistischen Wirtschaftspolitik und zum anderen das Erstarken der indigenen Organisationen.

Bolivien verfügt über einen großen Reichtum an Bodenschätzen, von Edelmetallen wie Silber und Gold bis hin zu Erdöl und –gas. Doch seit Jahrhunderten haben die Bolivianer die Erfahrung gemacht, dass der Ressourcenreichtum das Land nicht zum Wohlstand geführt hat. Die Armutsraten des Andenstaates, in dem sich über 60 Prozent der Bevölkerung als Indigene bezeichnen, sind die höchsten in Südamerika. Präsident Evo Morales hat bei seinem Amtsantritt versprochen, die Rohstoffe zur Bekämpfung der Armut einzusetzen, und gleichzeitig die Rechte der Umwelt und der indigenen Völker zu wahren.

Der bolivianische Präsident Evo Morales (Foto: Reuters)
Präsident Evo Morals. "Wir müssen über einen anderen Lebensstil nachdenken."Bild: Reuters

"Vivir bien bedeutet Respekt vor dem Leben. Leben heißt, zusammenleben und Fragen stellen: 'Will ich in einer Wegwerfgesellschaft leben, egal um welchen Preis? Oder will ich in Harmonie und Einklang mit der Natur leben?'", erläutert Regierungsberater Fernando Huanacuni. Der Soziologe und Angehörige des Volkes der Aymara hat viel über das "Vivir bien" veröffentlicht.

Feldarbeit in den Anden
Maschinen und moderne Brunnen wären nötig, um Kleinbauern ein "gutes Leben" zu ermöglichen.Bild: Fotolia

Regierungsmotto

"Kapitalismus ist der schlimmste Feind der Menschheit. Der Kapitalismus und die sinnlose Entwicklung grenzenloser Industrialisierung zerstören die Umwelt", verkündete Präsident Evo Morales 2009 in dem US-Nachrichtenmagazin Democracy now! Er forderte damals, die Wirtschaftspolitik müsse sich ändern und der Konsum von Luxusgütern gebremst werden. "Wir müssen über einen anderen Lebensstil nachdenken: es geht darum, gut zu leben, 'vivir bien', nicht besser zu leben. Besser leben geht nur auf Kosten Dritter und zum Preis der Umweltzerstörung."

Die Regierung von Evo Morales nahm das Konzept des "vivir bien" in die neue Verfassung Boliviens auf und verknüpfte es mit der Strategie der Nationalisierung der Wirtschaft sowie einem starken Umweltschutzdiskurs. Doch bis heute beklagen viele Bolivianer, dass immer noch nicht klar ist, was die Regierung eigentlich mit "vivir bien" meint – und die Auffassungen von einem guten Leben sind so vielfältig wie Bolivien selbst.

Erdöl, Bergbau und Gutes Leben?

In den 1980er und 1990er Jahren drängten internationale Organisationen wie die Weltbank Bolivien zu einem radikalen Privatisierungskurs. Dienstleistungen wie die Trinkwasserversorgung und Industriezweige wie die Erdgasförderung wurden an private Unternehmen übergeben. Ausländische Investitionen und ein kapitalistisches Geschäftsmodell sollten Bolivien im Kampf gegen die chronische Armut voranbringen. Aber das Land blieb arm. Große Teile der Bevölkerung empfanden die Privatisierung wie eine Wiederholung der kolonialen Vergangenheit. Die Ausbeutung der Silbervorkommen im 18. und 19. Jahrhundert füllte die Schatzkammer der spanischen Krone und hinterließ in Bolivien Armut und Elend.

Als Evo Morales zum Staatsoberhaupt gewählt wurde, zwang er ausländische Unternehmen zu einer Neuverhandlung der Öl- und Gasverträge. Die Regierung erhöhte die Steuern und Abgaben und erzielte so eine wesentliche Steigerung der Staatseinnahmen. Die zusätzlichen Mittel flossen in Sozialprogramme, die sogenannten Bonos, die monatliche Zahlungen für Rentner, Schüler und Studenten sowie Mütter und Kleinkinder vorsehen.

Ein indigene Frau aus dem östlichen Tiefland Boliviens in typischer Tracht (Foto: DW/ S. Shahriari
Vielvölkerstaat Bolivien: 36 Ethnien sind offiziell anerkanntBild: Sara Shahriari

"Die bonos wurden speziell für die bedürftigen Bevölkerungsgruppen geschaffen", erläutert Ariel Zabala David, Planungsdirektor im Industrie- und Wirtschaftsministerium. Die Zahlungen seien Teil der Strategie der wirtschaftlichen Umverteilung, mit dem Ziel, das Konzept des "vivir bien" durch Zugang zu Bildung, Gesundheit und wirtschaftlicher Stabilität zu fördern. Die ausgezahlten Beträge liegen zwischen 30 und 350 Dollar pro Jahr; viel Geld in einem Land, in dem viele Menschen nur ein paar Dollar am Tag verdienen. Regierungsangaben zufolge hat fast jeder dritte Bolivianer im vergangenen Jahr staatliche Geldleistungen empfangen.

Die UNO bescheinigt Bolivien Erfolge im Kampf gegen die Armut. In einem Anfang 2012 veröffentlichten Bericht heißt es, 1,4 Millionen Menschen hätten die Armut überwunden. "Das ist der größte Rückgang, den Bolivien in den letzten 50 Jahren erlebt hat", stellte Vizepräsident Álvaro García Linera fest. Das Wirtschaftswachstum des rohstoffreichen Landes lag in den vergangenen Jahren konstant zwischen drei und fünf Prozent. Bleibt die Frage, wie sich Bergbau und Erdölförderung langfristig mit dem Konzept des "Guten Lebens" übereinbringen lassen.

Kluges Wassermanagement: Bolivien lebt mit dem Klimawandel

Raúl Prada, der 2009 maßgeblich an der Ausarbeitung der neuen Verfassung beteiligt war, zählt inzwischen zu den Kritikern der Regierung. "Das Gesellschaftsmodell des "vivir bien" stellt eine Alternative zur Moderne, zum Kapitalismus und zu Entwicklung dar", so begründet er seine Kritik. "Diese Verfassung setzt nicht auf Rohstoffgewinnung. Aber die Regierung hat sich für die Fortführung eben dieses Wirtschaftsmodells entschieden und damit für die Fortsetzung des vom Ausland abhängigen Kapitalismus der bolivianischen und lateinamerikanischen Eliten. Darin lebt unser koloniales Erbe fort."

Eine Idee – viele Möglichkeiten

Lama- und Schafherden ziehen auf der Suche nach Futter über das karge bolivianische Hochland, den altiplano. Darüber spannt sich ein tiefblauer Himmel, am Horizont schimmern die Gletscherkuppen der Andengipfel. Hier, im Westen Boliviens, leben viele indigene Gemeinden von der Feldarbeit, sie pflügen den trockenen Boden mit Ochsengespannen und sammeln die Kartoffelernte per Hand ein – wie vor hunderten von Jahren. Entscheidungen über Aussaht, Ernte und Fruchtfolge trifft die Dorfgemeinschaft zusammen.

So auch in Laja, einem Dorf in den Anden westlich von La Paz. Der Fluss, an dem der Ort liegt, ist verdreckt durch die Abwässer der Großstadt. Hier lebt Miguel Nina mit seiner Frau. "Vivir bien", das sind für den Milchbauern vom Volk der Aymara vor allem zwei Dinge: sauberes Wasser für die Tiere und die Bewässerung der Felder und Investitionen in Brunnen und landwirtschaftliches Gerät wie Traktoren, um die landwirtschaftliche Produktion zu steigern. "Es ist ja gut, dass darüber gesprochen wird, aber das "gute Leben" muss hier auch ankommen", so Miguel Nina über seine Erwartung an die Regierung. "Dann könnten wir mehr Milchkühe halten. Aber ohne sauberes Wasser können wir nicht gut leben."

Yhovani Valdez Cuqui ist Angehöriger der Quechua Tacana-Ethnie, die im östlichen Tiefland Boliviens lebt. "Gutes Leben bedeutet, die Umwelt zu schonen und das Land nachhaltig zu nutzen. Die meisten Familien, die hier im Regenwald leben, ernähren sich von dem, was der Wald ihnen liefert. Als "Gegenleistung" müssen wir unsere Umwelt schützen", bekräftigt Valdez Cuqui, der in einem Ökotourismus-Projekt arbeitet.

Yhovani Valdez Cuqui is from the Amazonian Quechua Tacana group. He believes vivir bien means protecting ancestral lands. Vivir Bien Bolivia story. Photo taken May 2012. Title: Yhovani Valdez Cuqui Series Title in case there are several pictures about one topic VB Vivir Bien Tags Bolivia, indigenous, vivir bien, environment, economy, government Name of the photographer/or scource Sara Shahriari When was the pic taken? Photo taken May 2012 Where was the pic taken La Paz, Bolivia Description of the pic /occasion , situation when pic was taken, whom or what does the pic show? Yhovani Valdez Cuqui photographed in La Paz during a trip to meet with tour operators who promote eco-tourism
Yhovani Valdez Cuqui: "Es gibt viele Lebensentwürfe"Bild: Sara Shahriari

Im Konflikt um den Bau einer umstrittenen Nationalstraße durch das "Indigene Territorium Isiboro Secure" (TIPNIS) ist er hin und hergerissen: Die Regierung verteidigt das Infrastrukturprojekt mit dem Argument, den Bauern der Region den Zugang zu den Märkten zu erleichtern; die betroffenen indigenen Gemeinden lehnen das Projekt kompromisslos ab. "Die Regierung redet viel von "gutem Leben", und gleichzeitig zerstört sie die Regionen, die ein gutes Leben ermöglichen. Es gibt viele Lebensentwürfe, je nachdem in welcher Umgebung jemand lebt. Ein Bewohner des Hochlandes und ein Bolivianer aus den tropischen Regionen im Osten leben in anderen Realitäten, unser Lebensstil lässt sich nicht vergleichen."

Ausblick

Die bolivianische Verfassung erkennt offiziell 36 verschiedene indigene Sprachen an; viele von ihnen werden nur noch von kleinen Gruppen gesprochen. Zahlreiche Bolivianer identifizieren sich auch vorrangig über ihre Heimatstadt, ihren Beruf oder ihre Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft oder einem Bauernverband. Jede dieser Gruppen verfolgt eigene Ziele und hat eine eigene Idee vom "guten Leben".

"Vivir bien" hat viele Bedeutungen in Bolivien: die Umverteilung des Reichtums aus den Rohstoffvorkommen des Landes; eine vielfältige indigene Philosophie; der herrschende politische Diskurs sowie eine ökologisch orientierte Alternative zu Kapitalismus und Individualismus. Es handelt sich also um ein facettenreiches Konzept, das noch im Entstehen begriffen ist. Aber soviel ist klar: "vivir bien" ist der Schlüssel zum Verständnis des heutigen Bolivien – und wird möglicherweise entscheidend für die Zukunft des Landes sein.