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Boom der Literaturfestivals

17. September 2010

Weihevolle Dichterlesung - das war einmal. Heute werden Schriftsteller und ihre Bücher auf Literaturfestivals präsentiert. Und davon gibt es in Deutschland inzwischen eine ganze Menge. Doch was passiert da eigentlich?

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Hamburg Harbour Front Literaturfestival: John Irving (Foto: Thomas Hampel)
John Irving liest in HamburgBild: Thomas Hampel

Der Boden, auf dem die Autoren sich in Hamburg in diesen Tagen bewegen, schwankt. Zum zweiten Mal findet hier das "Harbour Front Literaturfestival" statt, mit Veranstaltungen rund um den Hafen und einem Festivalzentrum, das auf der Cap San Diego untergebracht ist - einem seetüchtigen Museums-Frachter. Hier trifft man sich auf einen Drink in der Offiziersmesse, jenem Bereich mit Bar und Restaurant, der früher den Offizieren und ihren Gästen vorbehalten war.

Lesung und Begegnung

Hamburg Harbour Front Literaturfestival: Blick aufs Wasser (Foto: Thomas Hampel)
Literatur mit Blick aufs WasserBild: Thomas Hampel

Lesefeste brauchen Begegnungsorte, sagt Nikolaus Hansen, einer der drei Organisatoren des Harbour-Front-Literaturfestivals. Darin liegt der besondere Reiz von Festivals. Sie leben von der Vielfalt der Autoren und der Möglichkeit für alle, Kontakte zu knüpfen. Die Künstler treffen auf Kollegen, Lektoren, Kritiker und Leser, und das Publikum hat die Chance, seine Lieblingsautoren einmal außerhalb einer Lesung zu erleben. Wobei freilich nicht alle Autoren am abendlichen Come-together teilnehmen, einige trinken lieber anderswo ein Glas Bier.

Junge Autoren erleben die Festivals oft als Chance. "Dann ist man in das Netzwerk des Literaturbetriebs eingewoben und weniger einsam, als wenn man irgendwo allein liest", meint Milena Michiko-Flasar. Die Österreicherin hat gerade ihren ersten Roman veröffentlicht: "Okaasan. Meine unbekannte Mutter" (Residenz-Verlag). Im Frühjahr durfte sie das Buch auf der lit.cologne vorstellen, dem Literaturfestival der Stadt Köln, jetzt liest sie in Hamburg - im Bauch des Schiffes, unten im Maschinenraum. Dort findet in diesem Jahr der Debütantensalon statt.

Hamburg Harbour Front Literaturfestival: Publikum im Maschinenraum der Cap San Diego (Foto: Thomas Hampel)
Lauschendes Publikum beim Debütantensalon - im großen Maschinenraum der Cap San DiegoBild: Thomas Hampel

Im Fahrtwind großer Namen

Milena Michiko-Flasar weiß, dass sie im Schatten der berühmten Autoren steht. Aber sie fühlt sich nicht erdrückt von ihnen, sondern gut betreut im Debütantensalon. "Wir sind Anfänger", sagt sie, "wir freuen uns, wenn uns überhaupt jemand zuhört". Knapp siebzig haben sich zu ihrer Lesung eingefunden, Milena Michiko-Flasar ist ganz überwältigt.

Nebenan im St. Pauli Theater präsentiert Ildykó von Kürthy ihren neuen Roman. Die bei Frauen beliebte deutsche Bestsellerautorin erreicht mit ihren witzigen Frauenromanen ein Millionenpublikum im In- und Ausland und ist eines des Zugpferde des Festivals. Die Stars in Hamburg aber waren die beiden Amerikaner John Irving und John Grisham, der noch auf keinem Festival in Deutschland aufgetreten ist.

Lesen im Zeitalter der Rekorde

Hamburg Harbour Front Literaturfestival: Nikolaus Hansen (Foto: Thomas Hampel)
Nikolaus HansenBild: Thomas Hampel

"Man braucht die großen Namen, um ein Festival zu etablieren und die Aufmerksamkeit und Sensibilität für das Gesamtprogramm herzustellen", glaubt Festivalleiter Nikolaus Hansen. "Damit die Leute überhaupt hingucken". Dann kämen sie auch zu den kleineren, auf den ersten Blick weniger attraktiven Veranstaltungen. Der Glanz der großen Namen strahlt auf die anderen ab, so das Kalkül. Und das scheint zu klappen.

16.000 Gäste zählte das Harbour Front Festival im vergangen Jahr. Diesmal rechnet Nikolaus Hansen mit 20 bis 25 Prozent mehr. In der Kultur geht es längst zu wie im Sport: Wachstum spielt auch hier eine Rolle, das erleichtert die Finanzierung. Denn ohne private Sponsoren gäbe es die meisten Lesefeste nicht. So werden die Festivals immer größer, die Veranstaltungen zahlreicher und die Namen der Autoren immer prominenter. Und Ende steht dann ein neuer beeindruckender Besucherrekord.

Event-Getrommel statt stilles Lesen

Hamburg Harbour Front Literaturfestival: Zuschauerandrang (Foto: Thomas Hampel)
Die Zuschauer stehen SchlangeBild: Thomas Hampel

Literaturfestivals dienen vielen Interessen, nicht nur den einzelnen Schriftstellern, auch dem Marketing der Verlage, dem Image der Sponsoren, dem Glanz der Kommunen und der Orientierung des Publikums. Sie lassen die klassische Dichterlesung in einem anderen Licht erscheinen. Es klingt doch viel schicker, ein Festival zu besuchen als eine Lesung. Und wenn ein Festival seine Veranstaltungen auch noch an attraktive Orte verlegt wie zum Beispiel in Hamburg, ist das ein zusätzlicher Anreiz. Literatur am Hafen, auf Schiffen, in Kirchen, Firmenkantinen, Kaufmannshäusern, Musikclubs und in Theatern auf der Reeperbahn - das macht schon etwas her.

Kritiker sprechen bereits von einer "Festivalitis" im Literaturbetrieb. Nicht ganz zu Unrecht. Lauter Festivalrummel widerspricht dem stillen Akt des Lesens. Eigentlich. Aber der Boom ist nicht mehr aufzuhalten. Sich Vorlesen-zu-lassen ist beliebt. Das zeigen die Hörbücher, die den Markt überschwemmen, aber auch die zahlreichen Lesungen, die in Buchhandlungen und Literaturhäusern stattfinden.

Die Literaturfestivals verleihen der klassischen Lesung mehr Glanz, indem sie sie einbetten in einen größeren Zusammenhang. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die stillste der Künste. Lesefeste werden groß plakatiert, einzelne Lesungen kaum. Das können sich Buchhandlungen und Literaturhäuser gar nicht leisten. Insofern helfen die Festivals bei allem Getöse auch den Schriftstellern und ihren Büchern.

Autorin: Heide Soltau
Redaktion: Petra Lambeck