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Brasilianischer Fußball zwischen Gift und Erlösung

Das Gespräch führte Soraia Vilela30. Juni 2006

Der Kulturwissenschaftler José Miguel Wisnik erklärt, warum Ronaldinho nach einem verlorenen Tor trotzdem lächelt, und wettet, die Kunst im brasilianischen Fußball sei nach wie vor im Spiel.

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Immer am Lächeln: RonaldinhoBild: picture-alliance/dpa

DW-WORLD.DE: Sie sagen, es gibt in Brasilien die Tendenz, über die kleinen Missgeschicke des Alltags mit einem Lächeln hinwegzusehen. Es ist auffällig, dass Ronaldinho auch dann noch lächelt, wenn er eine Torchance verpatzt hat. Was sind die historischen und kulturellen Gründe für solch ein Verhalten, das einem Fremden eher kindisch erscheint?

José Miguel Wisnik: Brasilianer haben ein ambivalentes Lächeln, das man nicht genau interpretieren kann. Ronaldinho lächelt, selbst nach einem Ballverlust. Doch genau deshalb hat sich der brasilianische Fußball etabliert, weil der Erfolg um jeden Preis nicht so wichtig war. Die Fußballkultur auf den brasilianischen Straßen hat das Spiel an sich als Ziel und nicht den Sieg. Jedes Kind will sich mit dem Ball beschäftigen und nicht unbedingt ein Tor schießen. Man nimmt das Ergebnis nicht so ernst. Das macht die ursprüngliche brasilianische Art, Fußball zu spielen, so einzigartig.

Sie haben einen Vortrag in Berlin über die Prosa und Poesie des Fußballs gehalten. Sie haben sich dabei auf einen Text des italienischen Filmemachers Pier Paolo Pasolini über Fußball bezogen. Pasolini unterscheidet zwischen dem poetischen Fußball der Lateinamerikaner und dem Kraftfußball der Europäer. Gibt es diesen Unterschied noch?

Pasolini hat diesen Essay im Jahr 1971 geschrieben. Heute kann man nicht mehr so genau zwischen diesen beiden Spielarten unterscheiden. Typisch für den künstlerischen Fußball ist der hohe Grad an Improvisation. Mit den vielen Tricks und Toren kann man diese Fußballart wegen ihrer plastischen Schönheit sogar mit einem Gemälde vergleichen. Diese Art Fußball findet man kaum noch. Heute zeichnet sich Fußball durch den Kampf um den Raum auf dem Feld aus. Er ähnelt einem Schachspiel. Wenn man den Fußball zwischen Prosa und Poesie einordnen will, wäre er jetzt eine Art Essay auf der Suche nach dem Poetischen. Es gibt brasilianische Spieler, die sich noch poetisch verhalten: Ronaldinho von FC Barcelona oder Robinho von Real Madrid. Das Problem ist, dass der brasilianische Trainer, Parreira, eine prosaische Konzeption des Fußballs hat. Ihm wäre eine Mannschaft wie die englische lieber, die strategischer und braver spielen kann.

Welche Bedeutung haben die Weltmeisterschaften für Länder, die außerhalb der Fußballwelt im internationalen Kontext wenig zu sagen haben?

Einige Völker, die einmal kolonialsiert wurden, finden im Fußball eine Möglichkeit, den eigenen Wert zu beweisen. Der Fußball ist die kulturelle Ausdrucksform, die dieses Bedürfnis der Selbstbehauptung am meisten verkörpert. Bei den Olympischen Spielen, zum Beispiel, gehen die meisten Medaillen vorrangig an die wirtschaftlich stärksten Länder. Der Fußball bietet dagegen gerade marginalen Kulturen einen Raum. Wo sonst hat Afrika auf der internationalen Bühne etwas zu sagen, außer in der Musik oder bei einer WM? Pasolini hat einmal sinngemäß gesagt, mit dem Fußball könnten die kolonialisierten Lateinamerikaner auch kulturell ein "Tor" gegen die einstigen Kolonialmächte erzielen.

Inwiefern hat der Fußball geholfen, den Rassenkonflikt in Brasilien zu lindern beziehungsweise zu verdecken?

Die brasilianische Mannschaft von 1938 war die erste, in der auch Mestizen und Schwarze dabei waren. Es hat sich gezeigt, dass gerade diese Menschen, die sonst diskriminiert wurden, Brasilien im Ausland am besten repräsentiert haben. Sie haben es geschafft, Menschen mit verschiedenen ethnischen Hintergründen zu vereinigen. Es ist schon verrückt, dass schwarze Fußballspieler zum Symbol aller Brasilianer wurden, gleichzeitig aber die Rechte der schwarzen Bevölkerung im Land nach wie vor unterdrückt werden. Ein gutes Beispiel war Artur Friedenreich, einer der Pioniere des brasilianischen Fußballs. Als Sohn eines Deutschen und einer schwarzen Brasilianerin versuchte er, seine schwarze Identität zu verstecken, indem er seine Haare glättete und sogar Mützen trug. Das hat natürlich nicht funktioniert.

Viele glaubten in Brasilien, der Fußball und die Musik würden das Land vor sozialen Konflikten und Gewalt schützen. Wie man heute sieht, ist dieser Plan nicht aufgegangen. Die spielerische Kraft des Fußballs und des Samba konnten das Land nicht von der Gewalt befreien?

Der Autor Gilberto Freyre schrieb in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, dass der Fußball der Gewalt auf den Straßen Einhalt gebieten könnte. Ehemalige Sklaven kämpften damals auf den Straßen Capoeira (brasilianische Kampfkunst, die Red.) und wurden als potenzielle Kriminelle angesehen. Freyre war der Meinung, diese Gewaltbereitschaft könnte durch Musik und Fußball sublimiert werden. Heute hat Brasilien eine Mannschaft, die bereits fünf Weltmeisterschaften gewonnen hat, und trotzdem ist das Land voller Gewalt.

Der Literaturwissenschaftler José Miguel Wisnik ist Professor an der Universität von São Paulo (USP) und Autor von zahlreichen Publikationen. Im Moment arbeitet er am Buch "Gift und Erlösung: Fußball in Brasilien", das im nächsten Herbst herausgegeben wird.