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Brasilianischer Schlager

Christina Weise12. November 2012

23 Jahre nach "Lambada" stürmte der Brasilianer Michel Teló die internationalen Musik-Charts. Sein Landsmann Gusttavo Lima beschallte den deutschen Sommer 2012. Brasilianischer Popschlager scheint beliebt. Wie lange?

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Die brasilianische Sänger Gusttavo Lima und Michel Teló (Foto: Getty Images)
Die brasilianische Sänger Gusttavo Lima und Michel TelóBild: AFP/Getty Images

"Nossa, Nossa" schallte es dieses Jahr durch sämtliche Radiolautsprecher, Diskotheken und Kopfhörer - und nicht zuletzt durch die Münder der Deutschen. Dass zunächst kaum jemand wusste, um welche Sprache es sich überhaupt handelte - geschweige denn die Bedeutung vom Titel des Liedes "Ai se eu te pego" - kannte, hielt die wenigsten vom Mitsingen ab.

Das Lied ist eingängig, klingt nach Sommer-Sonne-Strandurlaub und besitzt sogar einen eigenen Tanz. "Beste Voraussetzungen, um ein klassischer Sommerhit zu werden - ganz in der Tradition von 'Macarena', 'The Ketchup Song' und Konsorten", meint Binh Nguyen, promovierter Musikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Popmusik.

Allerdings: Michel Telós Hit "Ai se eu te pego" eroberte die deutschen Charts mitten im Winter und knackte den deutschen Download-Rekord. Und auch sein Landsmann Gusttavo Lima war mit seiner "Balada Boa" (deutsch: gute Party) im Mai reichlich früh dran: "Die typische Zeit für die Sommerhits war immer der September: wenn alle aus dem Urlaub zurückkommen und ihre Lieblingslieder aus den Diskos von Mallorca und Ibiza mitbrachten", erklärt Nguyen. "Durch die Billigflieger hat sich die Urlaubszeit stark ausgeweitet, so erreichen uns die exotischen Hits immer früher. Und über das Internet können sie eigentlich das ganze Jahr über einschlagen."

Tanzende Fußballprofis

Genau das gelang Michel Teló: Zunächst begann der brasilianische Fußballstar Neymar 2011 nach seinen Toren, zu "Ai se eu te pego" mit den Hüften zu kreisen. Außerdem kursierten Videos im Internet, in denen der Teeny-Schwarm mit nacktem Oberkörper in der Umkleidekabine des FC Santos das Lied singt und dazu tanzt. Andere Ballkünstler wie Cristiano Ronaldo und die deutschen Marco Reus und Lewis Holtby brachten den Trend nach Europa und Deutschland.

Michel Teló sitzt an der Gitarre (Foto: M.Teló)
Michel Teló spielt Klavier, Gitarre und AkkordeonBild: Michel Teló

Der Werbeeffekt war bahnbrechend: Der offizielle Videoclip von Michel Teló brachte es auf rund 450 Millionen "Views" auf Youtube - bis heute das mit Abstand meistgesehene portugiesischsprachige Lied der Internetplattform. Auf Platz zwei weilt "Balada Boa" von Gusttavo Lima. Der einfache Refrain - "Tche tchererê" - entbehrt jeder semantischen Bedeutung, ist reine Lautmalerei und dürfte auch notorische Fremdsprachenverweigerer beim Nachsingen nicht überfordern.

Auch hier hatte der Dribbelkünstler Neymar seine Hüften im Spiel, indem er Gusttavo Limas Konzertbühne mit seiner Prominenz anreicherte. Patrick Ressler, Musikredakteur beim Berliner Sender "Radio Fritz", sieht diesmal jedoch nicht den Fußballer als entscheidenden Faktor: "Es war einfach schlau, nach dem Hit von Teló mit einer ganz ähnlichen Nummer weiterzumachen."

Schlager knackt Rekorde

Auch abseits von Youtube brachen die Hits Rekorde: Die Marktforscher von Media Control meldeten im März dieses Jahres 600.000 verkaufte digitale Einheiten. "Ai se eu te pego" ist der erste Song, der in Deutschland diese Marke knackte. Zudem hielt er sich mehr als zehn Wochen auf Platz eins der deutschen Charts. "Balada Boa" verbrachte immerhin sechs Wochen auf seiner höchsten Chartplatzierung: Platz drei.

Aber vor allem in Brasilien füllen die beiden Sänger die Stadien. Der Heimatort von Gusttavo Lima wollte seinem berühmten Sohn sogar - offenbar gegen dessen Willen - eine Statue widmen. Aufgrund von Sponsorenmangel wurde das Projekt jedoch abgesagt.

Gusttavo Lima (Foto: Creative Commons)
Gusttavo Lima landete auch einen Nummer-eins-HitBild: cc-by:stephaniny-sa

Die Hits von Teló und Lima gehören zum brasilianischen "Sertanejo", dessen Status mit dem deutschen Schlager vergleichbar ist. Das Genre stammt aus dem landwirtschaftlich geprägten Hinterland Brasiliens, dem "Sertão". Es entwickelte sich von einer traditionellen Folklore zu einer Art sentimentaler bis rührseliger Popmusik, in der sich verschiedene Stile vermischen. Synkopische Rhythmen zum Tanzen und eingängige Melodien, besonders im Refrain, erhöhen die Massentauglichkeit. Das Subgenre "Sertanejo Universitário", dessen berühmteste Vertreter Michel Teló und Gusttavo Lima sind, zeichnet sich durch frechere, mitunter anzügliche Texte aus: "Ai se eu te pego" bedeutet frei übersetzt: "Warte nur, bis ich Dich kriege". Die Hüftbewegung lässt keine Zweifel offen, was dann passieren soll.

Nur ein One-Hit-Wonder?

Als Tokio Hotel anfingen, Welterfolge zu feiern, begann im Ausland ein Run auf die Deutsch-Kurse der Goethe-Institute. Solch unverhofften Zulauf könne die Berlitz-Sprachschule für ihre Portugiesischkurse nicht verzeichnen. Der Pop-Experte Nguyen vermutet: "Es handelt sich wohl eher um einen Zufall, dass dieses Jahr mal wieder Sommerhits aus Brasilien kamen. Viele Menschen wissen sicher gar nicht, wo das Lied herkommt und welche Sprache das ist." Der letzte Hit kam vor 23 Jahren aus Brasilien: "Lambada". Und Hand auf Herz: Wer hätte nun spontan Land und Sprache nennen können? Das gelingt vielleicht eher bei "Samba de Janeiro" aus dem Jahr 1997. Aber das kam von der Kölner Tanzkombo Bellini.

Ob Teló und Lima sich in die Reihe der One-Hit-Wonder unter den Sommerhits einreihen werden, bleibt abzuwarten. Der Berliner Musikredakteur Ressler jedenfalls glaubt nicht an künftige Erfolge: "Meist sind solche Phänomene für eine Saison gut. Es gibt schon noch kleinere Veröffentlichungen aus dieser Richtung, aber ich glaube nicht, dass sie großartig zünden werden."