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Politik

Corona im Amazonas: Die Ältesten sterben

João Soares apo
5. Juni 2020

Riesige Entfernungen, abgelegene Siedlungen, extrem wenig Beatmungsgeräte und kein Zugang zu sauberem Wasser: In Brasiliens Amazonas breitet sich Corona rasant aus. Die Lage wird immer katastrophaler.

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Nordbrasilien Urwald bei Santarem
Bild: DW/B. Kopsch

Der Zusammenfluss vom braunen Amazonas mit dem blauen Rio Tapajós ist die touristische Visitenkarte der Stadt Santarém im Westen des brasilianischen Bundesstaates Pará. Das Naturspektakel zieht Touristen aus der ganzen Welt an, insbesondere die kleine Stadt Alter do Chão, wo Kreuzfahrtschiffe anlegen und weiße Sandbänke im dunklen Wasser aufblitzen.

Für die Einwohner der Region ist die Lage allerdings alles andere als idyllisch. In der Dschungel-Metropole Santarém hat nur die Hälfte der Bevölkerung Zugang zu sauberem Wasser. Und gerade einmal vier Prozent der Haushalte sind an das Kanalsystem angeschlossen.  

Hygiene ohne Wasserhahn?

"Die Epidemie trifft im Amazonas auf die schlimmst möglichen Voraussetzungen", erklärt der Arzt Caetano Scannavino. Er lebt seit mehr als 30 Jahren in der Region und leitet dieNichtregierungsorganisation "Saúde & Alegria", die rund um Santarém Projekte im Bereich Gesundheitsversorgung, Ausbildung und nachhaltige Entwicklung umsetzt.

"Wie soll man die für Corona angeordneten Hygienemaßnahmen bei einer Bevölkerung durchsetzen, die zuhause noch nicht einmal sauberes Wasser hat, geschweige denn einen Wasserhahn aufdrehen kann?", fragt er.

Brasilien Para Itaituba Amazonas Rio Tabajos
Postkartenidylle ohne Touristen: Die Sandbänke von Alter do Chão im AmazonasBild: Imago/AGB Photo/R. Aguiar

Krankentransport per Hubschrauber

Die Lage ist dramatisch. Für die rund eine Million Menschen aus den 22 umliegenden Gemeinden, die zum Einzugsgebiet von Santarém gehören, stehen in der Stadt 49 Plätze auf der Intensivstation zur Verfügung.

Die Größe des Gebiets ist enorm. So ist die Stadt Itaituba (siehe Karte) mit ihren über 62.000 Quadratkilometern doppelt so groß wie Belgien. Der Krankentransport für Patienten, die eine Behandlung in Santarém benötigen, erfolgt aufgrund der riesigen Entfernungen per Hubschrauber, den die Landesregierung des brasilianischen Bundesstaates Pará zur Verfügung stellt.

Der Bundesstaat Pará steht stellvertretend für die Corona-Katastrophe Brasiliens. Knapp drei Millionen Menschen leben dort mehr als vier Stunden vom nächsten verfügbaren Beatmungsgerät entfernt. Während in der Industriemetropole São Paulo im Durchschnitt ein Beatmungsgerät auf 2400 Einwohner kommt, liegt das Verhältnis in Santarém bei eins zu 20.000.

Nach Angaben der Stadtverwaltung von Santarém vom 3. Juni gibt es in der Gemeinde offiziell 1815 bestätigte Corona-Infizierte und 96 Todesfälle. In Para liegt die Anzahl der Infizierten laut brasilianischem Gesundheitsministerium bei 44.774 Menschen, in ganz Brasilien sind es bereits über 600.000 Fälle. 

Karte Brasilien Amazonas Reserva Extrativista Tapajos-Arapiuns DE

Hohe Corona-Dunkelziffer in Brasilien

Die Zahlen sind allerdings nur bedingt aussagekräftig. Weil es an Infrastruktur für klinische Tests in Santarém mangelt, werden die Laborergebnisse per Flugzeug in die Landeshauptstadt Belém transportiert. Die Analyse kann sich dort bis zu zwei Wochen hinziehen.

"Gemessen an der Häufigkeit der Krankenhaus-Einweisungen gehe ich davon aus, dass es im Westen Parás zwischen 20.000 und 40.000 Corona-Infizierte gibt", meint der Virologe João Guilherme Assy vom Gesundheitsamt in Santarém.

Der Andrang auf einen Platz auf der Intensivstation ist groß und zwingt die Ärzte im Krankenhaus zur Improvisation. So wechseln sich Patienten bei der Benutzung eines Beatmungsgerätes ab. Viele Ärzte fehlen, weil sie sich durch den Kontakt mit COVID-19-Patienten selbst infiziert haben. 

Brasilien | Menschen in Belem in Brasilien gehen mit Maske und ohne Abstand während der Coronakrise auf den Markt
Von wegen Abstand halten: Die Mehrheit der Bevölkerung in Belém und Santarém hält sich nicht an die DistanzregelnBild: Imago Images/Fotoarena/F. Bispo

Erschwerend kommt hinzu, dass nur ein geringer Teil der Bevölkerung sich an die Ausgangs-und Kontaktbeschränkungen hält. Auch in Santarém wird der Kampf gegen die Pandemie vor Gericht ausgetragen.

Einzelhandel gegen Corona-Lockdown

So ließ die Justiz die Ende Mai verfügten Kontaktbeschränkungen für sieben weitere Tage verlängern, nachdem der Bürgermeister von Santarém, Nélio Aguiar, diese aufgehoben hatte. Die verantwortliche Staatsanwältin wurde daraufhin in Whatsapp-Gruppen beschimpft und bedroht.

Restaurantbesitzerin Juliana Galvão hält dies für unverantwortlich: "Es ist unvernünftig von den Geschäftsleuten, gegen den Lockdown zu wettern", sagt sie. "Gerade weil die Stadt vom Tourismus lebt, müssen wir mit gutem Beispiel vorangehen und Vertrauen schaffen, damit nach der Krise wieder Besucher kommen."

Die ideologische Kontaminierung wirkt sich auch auf die medizinische Behandlung aus. "Ich musste oft meine Arbeit unterbrechen, weil irgend jemand einen Skandal gemacht hat, um an das Rezept für Hydroxychloroquin zu kommen", erinnert sich der Virologe João Guilherme Assy.

Das Malaria-Medikament mit dem Wirkstoff Hydroxychloroquin wird vom brasilianischen Gesundheitsministerium zur Behandlung von COVID-19 empfohlen. Es war Bestandteil einer von der WHO koordinierten Forschungsreihe mit mehr als 3500 Patienten in 35 Ländern. Ende Mai wurden die Tests aufgrund von wissenschaftlichen Bedenken ausgesetzt. Am 4. Juni kündigte die WHO an, diese wieder aufzunehmen.

Brasilien Livaldo Sarmento Umweltschützer
Umweltschützer Livaldo Sarmento im Sammlerreservat Resex Tapaós-Arapiuns in der Nähe von Santarém Bild: DW/A. Prange De Oliveira

"Unsere Ältesten sterben"

Das Virus dringt unterdessen immer weiter in den Amazonas vor. Zu den Gebieten, die der Pandemie besonder schutzlos ausgeliefert sind, gehört auch das Reservat Tapajós-Arapiuns. In dem Schutzgebiet mit  23.000 Einwohnern leben Indigene, Sammler und Flussanwohner.

"Die Regierung macht es uns schwer, Nothilfe zu beantragen", sagt Auricelia Arapium, Sprecherin der Anwohnervereinigung im Reservat. "Es gibt kein Internet, um Dokumente zu überliefern und keine spezielle Unterstützung für Indigene, deren Immunsystem besonders fragil gegenüber dem Virus ist."

Die Flussbewohnerin ist verzweifelt. "Hier sind viele Leute krank. Wir sehen unsere Ältesten sterben. Wir brauchen Hilfe."