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Politik

Einmal Leben retten für 300 Euro

Thomas Milz
14. September 2018

Fachärzte des öffentlichen Gesundheitssystems in Brasilien haben nach einem Attentat Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro gerettet. Doch das SUS krankt an wuchernder Bürokratie, Korruption und Verwaltungschaos.

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Brasilien, Sao Paulo: Wartezimmer in einer Klinik
Bild: Getty Images/AFP/M. Schincariol

"Urgencia vermelho", die höchste Dringlichkeitsstufe vergaben die Ärzte des Santa-Casa-Hospitals in Juiz de Fora dem mit einer Messerwunde eingelieferten Patienten. Genau 15 Minuten später begann die Notoperation, die Präsidentschaftskandidat Jair Messias Bolsonaro das Leben rettete. Dem Arzt wird das brasilianische Gesundheitssystem "Sistema Único de Saúde" (SUS) dafür umgerechnet etwa 76 Euro überweisen, dem Krankenhaus 227 Euro.

Das SUS garantiert eine universelle und kostenlose medizinische Betreuung für jeden - wichtig in einem armen Land, wo die Mehrheit sich keine Privatversicherung leisten kann. Bund, Länder und Gemeinden teilen sich die Finanzierung. "Die Idee des SUS, für die ganze Bevölkerung dazusein, ist toll. Das gibt es neben Brasilien noch in ähnlicher Form nur in Kanada", sagt die Radiologin Flávia Engel Aduan. In der Realität ist das SUS jedoch in vielen Regionen unterfinanziert, eine Folge des chronischen Haushaltsdefizits vor allem der Länder und Gemeinden.

Brasilien Messerattacke auf Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro
Lebensrettung für 300 Euro: Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro nach dem AttentatBild: Getty Images/AFP/R. Leite

Jeden Mittwoch führt die Radiologin Biopsien im "Hospital do Cancer 3" durch, einer von vier Spezialkliniken des "Instituto Nacional do Câncer" (Inca). Hinter dem Gebäude im Stadtteil Vila Isabel im Zentrum von Rio de Janeiro türmt sich die Favela Morro dos Macacos auf, deren ungeklärte Abwässer bei Regen auch mal die Einfahrt des "HC 3" hinabfließen. Doch in dem Gebäude erwartet die Patienten eine der modernsten Einheiten des SUS, dank hoher Direktinvestitionen des Gesundheitsministeriums. 

Kátia Aparecida ist erleichtert, ihre Mutter erhält endlich eine Brustkrebs-Biopsie. "Wir können keine Zeit mehr verlieren." In ihrem Stadtteil Santa Cruz an der Peripherie funktioniere die "clínica da família" nicht. Ihr an Prostatakrebs erkrankter Vater warte seit einem Jahr auf einen Urologentermin. Für Untersuchungen in Privatkliniken hat Kátia bereits ca. 560 Euro aus eigener Tasche bezahlt. Doch mit den krebskranken Eltern daheim könne sie nicht mehr arbeiten gehen. 

Domino-Effekt

Das SUS ist ein dreigeteiltes System. Die Basis bilden die "Clinicas da Família" und "Postos de saúde", die in den Stadtvierteln die Grundversorgung sicherstellen. Die Krankenhäuser der "assistencia secundaria" behandeln gängige Krankheiten und führen kleine Eingriffe durch, während die dritte Stufe aus Spezialkliniken wie dem Inca besteht. "So sieht die Theorie aus. In der Praxis funktioniert das aber so nicht", sagt Flávia.

Bei den Basiseinheiten mangelt es oft an Verbandszeug, Medikamenten und Ärzten - eine Folge der Haushaltskrise der Gemeinden. Die Patienten suchen deshalb die Krankenhäuser der "assistencia secundaria" auf, wo die Notaufnahmen mit Fällen überlastet werden, für die sie eigentlich nicht zuständig sind. "Das überlastet die zweite Stufe, und die dritte zwangsläufig auch. Das ist eine Kaskade." 

Politik der Krankenwagen

In Rios Südzone sind die funktionierenden Einheiten des SUS mit Patienten aus der Peripherie und aus dem Interior überlastet. "In anderen Gemeinden beschränkt sich die Gesundheitspolitik darauf, Krankenwagen zu kaufen. Mit denen überführt man die Patienten nach Rio und entsorgt sie im dortigen System", sagt Flávia.

Brasilien, Rio de Janeiro: Patienten warten in einem Krankenhaus
Streiks zu Lasten der Patienten: Warten im Krankenhaus im Juni 2016Bild: picture-alliance/dpa/G. Ismar

Ähnliches passiert in ganz Brasilien. Da die Basiseinheiten nicht funktionieren, werden Patienten oft über hunderte Kilometer transportiert. So findet man in Spezialkliniken in Teresina Patienten aus dem ganzen Nordosten, und in Goiania Patienten aus dem ganzen Zentral-Westen. Aufgrund des Andrangs muss der Bund zwangsläufig seine Investitionen genau dort konzentrieren, weshalb sich an den mangelhaften Zuständen in den Kleinstädten wenig ändert. 

Umstrittene Hilfe aus Kuba

Das 2013 gestartete Programm "Mais Médicos" sollte diese Lücke schließen und Ärzte freiwillig in die unterversorgten Regionen holen. Mangels Bewerbern mussten jedoch tausende kubanische Ärzte einspringen. "Es liegt nicht nur daran, dass die brasilianischen Ärzte nicht dorthin ziehen wollen. Das Problem ist, dass man dort nicht arbeiten kann, denn in den Kliniken fehlt es an Medikamenten, an Equipment, an allem", so Flávia.

Brasilien, Rio de Janeiro: Medizinische Angestellte protestieren gegen Arbeitsbedingungen
Kein neues Problem: Proteste gegen die Arbeitsbedingen im Gesundheitssystem im Juli 2013Bild: Getty Images/AFP/V. Almeida

Sie selbst arbeitete jahrelang im "Hospital Universitário Pedro Ernesto" der Landesuniversität UERJ. In den letzten zwei Jahren hat sie dort die Biopsie-Nadeln selber bezahlt. "Geld war sogar da, aber es fehlte ein gutes Management." In der Verwaltung säßen Ärzte, die von der Bürokratie überfordert seien - eine leichte Beute für die Korruption. Rios ehemaliger Landessekretär für Gesundheit muss sich derzeit wegen gefälschter Ausschreibungen verantworten. Auch die auf Landesebene eingeführten zentralen Wartelisten für Operationen bieten Möglichkeiten für Korruption. So deckte Rios Presse vor einigen Wochen auf, dass Bürgermeister Marcelo Crivella ihm nahestehenden Pastoren Operationen an den Wartelisten vorbei anbot. 

Wiederholte Untersuchungen

Die Verteilung der Patienten nach Verfügbarkeit habe noch viel weiterreichende Probleme. "Den Patienten dahin zu schicken, wo gerade ein Platz frei ist, hört sich nach einer schönen Idee an - aber funktioniert so nicht", so Flávia. Ein Chirurg wird sich nicht auf Röntgenbilder verlassen, die in einem anderen Krankenhaus von einem ihm unbekannten Radiologen gemacht wurden. "Multipliziere das mit Millionen Patienten! Der Informationsaustausch zwischen den SUS-Einheiten ist abgerissen, die Krankenhäuser kommunizieren nicht mehr miteinander." Das Resultat sind chaotische Zustände.

Mittlerweile hat Flávia ihre eigene Klinik in Rios Südzone aufgemacht. Die Biopsien im Inca führt sie aber weiter durch, sie fühle sich dem SUS verpflichtet. "Gesundheit ist das Recht aller Bürger und eine Verpflichtung für die Regierung. Eine geniale Idee, und es wäre toll, wenn besonders die Flächenabdeckung durch die Basiseinheiten funktionieren würde." Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro wurde übrigens wenige Stunden nach seiner erfolgreichen Operation in eine der teuersten Privatkliniken Brasiliens in São Paulo überführt.