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Gesellschaft

Brasiliens evangelikale Seele

Djamilia Prange de Oliveira | Elisa Michahelles Dourado
30. September 2022

Pfingstgemeinden krempeln Brasiliens Gesellschaft um. Der Fotograf Ian Cheibub ist in die Welt der Gläubigen eingetaucht. Seine Erkenntnis vor den Wahlen am 2. Oktober: Der Hunger entscheidet, nicht die Religion.

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Christusstatue im Aufbau
Brasilien als religiöse Baustelle: In der Stadt Encantado im Süden des Landes wird eine neue Christusstatue errichtetBild: SILVIO AVILA/AFP

Golgotha: der Ort, an dem Jesus gekreuzigt wurde, Ort des Todes und der Erlösung. Für den brasilianischen Fotografen Ian Cheibub ist sein gleichnamiges Fotoprojekt eine Metapher und zugleich eine Liebeserklärung an sein Land. Mit seiner Kamera porträtiert er die evangelikale Welt Brasiliens - von der Favela in Rio bis zur indigenen Siedlung im Amazonas.

Cheibub zeigt, wie die Gläubigen das Evangelium "brasilianisieren". Aus der von US-amerikanischen Missionaren gepredigten Variante des Christentums ist eine eigene brasilianische Glaubensrichtung geworden, die sich deutlich von der katholischen Kirche abgrenzt.

Hypnotische Mischung

"Es gibt nicht 'die Evangelikalen'", sagt der Fotograf im DW-Gespräch. "Wir reden hier von fast 70 Millionen Menschen, das sind 31 Prozent der brasilianischen Bevölkerung." Umfragen zufolge soll die Bevölkerung im bisher größten katholischen Land der Welt bis 2030 mehrheitlich evangelikal sein.

Brasilien Ian Cheibub, Fotograf
Der preisgekrönte brasilianische Fotograf Ian Cheibub tauchte für sein Projekt "Golgotha" tief in die Welt der Evangelikalen einBild: Sarah Lemos

Die brasilianische Pastorin Norma gehört zu den Millionen von Brasilianerinnen, die ihren Glauben gewechselt haben. 30 Jahre lang war sie Priesterin in einem Tempel für Candomblé-Kulte in einer Favela in Rio de Janeiro. Schon ihre Mutter, Großmutter und Urgroßmutter beteten zu den afrobrasilianischen Göttern, genannt Orixás.

Irgendwann ließ Norma die Orixás hinter sich, konvertierte und eröffnete eine Kirche in ihrem Haus. "Sie kann alle Instrumente spielen", sagt Ian Cheibub. "Sie bringt ihrer fünfjährigen Enkelin bei, auf der kleinen Pandeiro-Trommel zu spielen und so Gott zu preisen."

Während Cheibub von der Musik erzählt, gleiten seine Finger rhythmisch über die Saiten einer imaginären Gitarre und seine Stimme erhebt sich zum Gesang. "Evangelikale Musik ist eine hypnotische Mischung aus traditionellen brasilianischen Rhythmen wie Forró und Samba", erklärt er.

Evangelikale in Brasilien
Erst Candomblé-Priesterin, jetzt evangelikale Pastorin: die Afro-Brasilianerin Norma mit Enkelin in einer Gemeinde in RioBild: Ian Cheibub

Es war die Musik, die den 23-jährigen Fotografen in Brasiliens Pfingstgemeinden und evangelikale Tempel führte. In seinem preisgekrönten Fotoprojekt "Golgotha" zeigt Cheibub Bekehrungen, Taufrituale und Gottesdienste, vom Amazonas bis in Rios Favelas.

"Brasilianisches" Evangelium

Anders als die intellektuelle Elite Brasiliens, die fürchtet, die fortschreitende Macht und Missionierung der evangelikalen Kirchen könnte die brasilianische Kultur auslöschen, argumentiert Cheibub genau andersherum: Es sind die Gläubigen in Brasilien, die das Evangelium "brasilianisieren".

Das Fotoprojekt "Golgotha" ist für ihn eine Liebeserklärung an die "brasilidade" - die Seele Brasiliens: "Evangelikale verkörpern diese brasilidade", sagt er. Elemente aus afrobrasilianischen und indigenen Kulturen werden ohne Berührungsängste in die Rituale integriert.

Das indigene Volk Krikatí im Nordosten Brasiliens adaptierte sogar die Bibel und die Lobgesänge in seine eigene Sprache. "Es ist ein beinahe kannibalistischer Prozess: Sie verschlingen die evangelikalen Riten - und heraus kommt dabei etwas authentisches Brasilianisches", sagt Cheibub.

Brasilien: Vom Drogenboss zum evangelikalen Missionar

Für den rasanten Aufstieg der evangelikalen Kirchen hat Cheibub gemeinsam mit vielen brasilianischen Soziologen eine einfache Erklärung parat: Die Kirchen seien dort zur Stelle, wo der Staat nicht präsent ist.

Die Kirche als Problemlöserin

"Für die Pastoren Tiago und Nilton waren die evangelikalen Gemeinden die Rettung", erzählt er. Pastor Nilton Pereira war einer der meistgesuchten Kriminellen der Drogenmafia Rios, bevor er evangelikal wurde. Mit 17 Jahren stieg er in den Drogenhandel ein. Irgendwann kam er ins Gefängnis und konvertierte. Heute predigt er jeden Donnerstag in der Favela, in der er noch ein paar Jahre zuvor als Drogenboss gefürchtet war.

Auch der indigene Pastor Tiago Krikatí ist davon überzeugt, dass der Glaube an Jesus sein Leben gerettet hat. Er sei Alkoholiker gewesen, arbeitslos und habe seine Frau geschlagen. Heute arbeitet er als Lehrer, ist Pastor und versucht, sein Dorf zu bekehren. Diese Lebensläufe sprechen für sich, findet Cheibub. "Wie kann man da sagen: Du bist brainwashed? Es geht hier ums Überleben!", sagt er.

Brasilien | Evangelikale | Präsident Jair Bolsonaro und seine Ehefrau Michelle
"Marsch für Jesus": In Camboriu werben Präsident Bolsonaro und seine Frau Michelle um Stimmen evangelikaler ChristenBild: Alan Santos/PR

Die fehlende staatliche Präsenz hat die Macht evangelikaler Gemeinden in Brasilien anwachsen lassen. Präsident Jair Bolsonaro kam 2018 mit Hilfe der Stimmen der evangelikalen Bevölkerung an die Macht.

Brasilien, ein säkularer Staat?

Bei den bevorstehenden Wahlen am 2. Oktober könnte diese Gruppe erneut über den Ausgang der Wahl entscheiden. Längst haben evangelikale Politiker die politischen Institutionen infiltriert und besetzen wichtige politische Posten.

Für Fotograf Ian Cheibub steht bei den aktuellen Wahlen nicht die Religion im Vordergrund. "2018 ging es um Moral. Aber wer Hunger hat, denkt nicht an Moral. Der Hunger ist nach Brasilien zurückgekehrt", sagt er. Es sei für das Wahlergebnis nicht ausschlaggebend, wer evangelikal ist und wer nicht. "Entscheiden wird diese Wahl der Hunger."