1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Bolsonaros Stimmungstest

2. Dezember 2020

Kommunalwahl in Brasilien: Die Bürger von Rio de Janeiro haben den rechtspopulistischen Bürgermeister abgewählt. Sein Vorgänger ist wieder im Amt. Eine Ohrfeige für Präsident Jair Bolsonaro?

https://p.dw.com/p/3m5v3
Rio de Janeiro Skyline Zuckerhut
Bild: picture-alliance/robertharding

Eduardo Paes steht vor den Trümmern seiner Arbeit: Von dem, was er als Bürgermeister von Rio de Janeiro einst aufgebaut hat, ist nicht mehr viel übrig. Von 2008 bis 2016 hatte er die Stadt am Zuckerhut mit einigem Erfolg durch ereignisreiche Jahre gesteuert: Weltklimagipfel 2012, Weltjugendtag 2013, Fußball WM 2014 und Olympische Spiele 2016. Die Megaevents spülten Touristen, Investoren und deren Milliarden in die Stadt.

Bei den Vorbereitungen der Großereignisse lief zwar nicht alles optimal. Die Sanierungen von Favelas in der Nähe von Veranstaltungsorten ging teils mit widerrechtlichen Enteignungen und Menschenrechtsverletzungen einher. Außerdem landete ein Großteil des Geldes dort, wo es für Investoren und Touristen gut, aber nicht unbedingt die Bewohner der Stadt wichtig war.

Isabela Souza, Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation Observatório de Favelas (OF) mit Sitz in Rio, kritisiert das: "Viele Stadtteile kamen dabei zu kurz." Sie räumt aber auch ein: "Auch weniger privilegierte Gegenden profitierten von dem Aufschwung, erhielten neue Schulen und eine bessere Gesundheitsversorgung."

Touristen statt Drogenkartelle

Weltweite Aufmerksamkeit erlangte Rio zu dieser Zeit auch mit der Befriedung seiner Armenviertel: Zuerst wurden die Drogenkartelle von schwerbewaffneten Polizisten aus den Favelas verjagt. Dann sorgten Einheiten der sogenannten Friedenspolizei, die nicht dominant, sondern als Beschützer mit sozialpartnerschaftlichen Aufgaben auftrat, für eine dauerhafte Verbesserung der Sicherheitslage.

Brasilien | Rio de Janeiro | Kommunalwahlen zum Bürgermeister | Eduardo Paes
Wahlsieger Paes: Vor den Trümmern seiner ArbeitBild: Alexandre Loureiro/Getty Images

In der Folge blühten viele Favelas auf, einige mauserten sich zu regelrechten Szenevierteln. Selbst Touristen wagten sich plötzlich auf die einstigen Schlachtfelder des Drogenkriegs zwischen Kartellen, Milizen und Polizei.

Bis 2014 wuchs Rios Wirtschaftsleistung - inflationsbereinigt - um zehn Prozent pro Jahr. Doch mit Brasilien rutschte auch die Metropole am Zuckerhut in eine Wirtschaftskrise. Berichte über Korruption in Reihen der Friedenspolizei brachten zudem dieses Projekt in Verruf und die versiegende Finanzierung höhlte die Idee weiter aus, eine vertrauenswürdige Polizei mit zu etablieren. Inzwischen gilt das Vorhaben als gescheitert.

2016 konnte Paes nicht wieder kandidieren und es kam zum Rechtsruck: Marcelo Crivella gewann die Wahl, ein evangelikaler Bischof und Freund zweier Söhne von Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro. Doch der neue Bürgermeister habe Rio de Janeiro "in allen relevanten Bereichen sich selbst überlassen", sagt OF-Präsidentin Souza. Dafür bekam Crivella jetzt, nach vier Jahren Amtszeit die Quittung: Bei der Stichwahl am vergangenen Wochenende stellten Rios Bürger Crivella den Stuhl vor die Tür. Sein Herausforderer gewann deutlich. Es ist sein Vorgänger Eduardo Paes. Er bekam fast Zwei-Drittel aller Stimmen.

Vom politischen Chaos zurück zur Mitte

Ähnliche Geschichten lassen sich aus vielen brasilianischen Städten berichten: Nach dem Aufschwung der Nuller-Jahre kam der Abschwung, und viele machten die linke Arbeiterpartei PT von Lula da Silva und Dilma Rousseff, die Brasilien von 2003 bis 2016 regierten, dafür verantwortlich. Es folgte ein Rechtsschwenk, der Präsidentin Dilma Rousseff aus dem Amt und eine Reihe rechter und rechtsradikaler Politiker in wichtige Rathäuser katapultierte - und im Jahr 2018 Jair Bolsonaro ins Präsidentenamt.

Brasilien | Rio de Janeiro | Präsident Jair Bolsonaro
Präsident Bolsonaro: Weniger Bürgermeister aus seinem DunstkreisBild: Luis Alvarenga/Getty Images

Nur wenige dieser rechtsgerichteten Bürgermeister konnten ihre Ämter bei der diesjährigen Kommunalwahl verteidigen, die in Brasilien überall gleichzeitig stattfand. In den Hauptstädten der 26 Bundesstaaten wird es ab 2021 nur noch einen Bürgermeister aus dem Dunstkreis des "Bolsonarismo" geben. Aber auch die PT konnte kein einziges wichtiges Rathaus erobern. Stattdessen haben sich vielerorts klassische Konservative und Sozialdemokraten durchgesetzt.

Allzu viel Bedeutung als Stimmungstest will Annette von Schönfeld, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro, der Wahl aber nicht einräumen: "Ein Denkzettel für Bolsonaro ist das nicht. Die Brasilianer haben mehrheitlich eine pragmatische Wahlentscheidung getroffen." Tatsächlich haben die Wähler auch nicht überall so deutlich gegen Bolsonaros Kandidaten gestimmt wie in Rio. In Vitória, der Hauptstadt des Bundesstaats Espíritu Santo, konnte sich einer von ihnen sogar erstmals durchsetzen und den linken Bürgermeister aus dem Amt verdrängen.

Hoffnung auf Rückkehr zur Ordnung

Als Heilsbringer werden die neuen Bürgermeister kaum gesehen, meint von Schönfeld: "Die Menschen erwarten vor allem einen wissenschaftsbasierten Umgang mit COVID-19 und ein wenig politische Ordnung." Allerdings stehen die meisten Bürgermeister vor schier unlösbaren Aufgaben. Auch hierfür kann Rio de Janeiro als Beispiel dienen.

Brasilien | Rio de Janeiro | scheidender Bürgermeister Marcelo Crivella
Abgewählter Bürgermeister Crivella: Von den Wählern die Quittung bekommenBild: Wallace Sila/Fotoarena/imago images

Der Sommer, in dem die Menschen in Scharen an die Strände strömen, steht vor der Tür, Abstandhalten könnte da schwer werden. Das Problem von Straßenkriminalität, Gewalt und organisiertem Verbrechen ist in den vergangenen Jahren wieder gewachsen, ebenso der Anteil der Menschen, die im informellen Sektor, also ohne Arbeitsvertrag arbeiten. Die Stadtkassen sind so leer wie selten zuvor, und im Zuge der Corona-Krise ist die ohnehin fragile Wirtschaft dramatisch eingebrochen: Zwischen Mai und August lag die Wirtschaftsleistung von Rio de Janeiro zehn Prozent unter der des Vorjahreszeitraums.

Hoffnung auf Rückkehr zur Ordnung

Eine zeitnahe Besserung der Situation ist kaum in Sicht. Denn gerade im Sommer sorgt normalerweise der Tourismus für weitere Einkommensquellen. Doch der dürfte es im kommenden Jahr kaum etwas einbringen, zumal - nicht nur in Rio - der Karneval bereits abgesagt ist.

Neben dem Kampf gegen die Pandemie, schreibt der Handels- und Dienstleistungsverband Fecomercio von Rio de Janeiro auf DW-Anfrage, sei entscheidend für die Wirtschaft, ob es Paes Arbeitskräfte gelingt, wieder mehr Menschen aus der Informalität in reguläre Beschäftigungsverhältnisse zu bringen. Dann, so die Hoffnung, würden auch Unternehmen wieder mehr Anreize für Investitionen sehen.

Isabela Souza vom Observatório de Favelas sieht einen deutlich breiteren Handlungsbedarf. Der nun abgewählte Bürgermeister Marcelo Crivella habe vier Jahre lang alle relevanten Bereiche vernachlässigt: Gesundheit, Bildung, Kultur und öffentlicher Nahverkehr. "Mit Eduardo Paes haben wir durchaus die Hoffnung, dass das Rathaus wieder ein angemessenes Maß an Verantwortung übernimmt."

 

In einer früheren Version dieses Artikels wurde die Arbeit der UPP fälschlicherweise Eduardo Paes zugeschrieben. Sie war aber eine Initiative des Bundesstaates Rio de Janeiro und lag damit nicht im Verantwortungsbereich des Bürgermeisters der Stadt Rio de Janeiro.

Jan Walter Autorenfoto
Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.