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Brasilien ist im Fußballwahn

Astrid Prange, z.Zt. Rio de Janeiro24. Juni 2014

Der WM-Blues ist vorbei. Nach dem 4:1 Sieg gegen Kamerun feiert das Land sich selbst. Doch die Probleme sind nicht vergessen. Die Fußballfans taumeln zwischen Ausnahmezustand und Alltag hin und her.

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Brasilianischer Fan beim Fest "Alzirão" in den Farben der Mannschaft. (Foto: DW/Astrid Prange)
Bild: DW/A. Prange

Wie bei einem Vulkanausbruch explodierte am Montag (23.06.2014) die Begeisterung der Fußballfans im ganzen Land. Nach dem 4:1 Sieg gegen Kamerun befindet sich die Bevölkerung im Siegesrausch.

"Ich habe es geahnt. Wenn der Ball erst einmal rollt, vergessen die Leute die Probleme, die sie mit der WM hatten, ein wenig", sagt Ricardo Ferreira. Seit 1978 organisiert er bei jeder WM das Straßenfest "Alzirão" im Stadtteil Tijuca in Rio de Janeiro. "Ich finde, die WM entwickelt sich zu einem echten Erfolg, es ist alles sehr organisiert und die Bevölkerung nimmt die Fans aus dem Ausland herzlich auf."

Was ist los in Brasilien? Herrschte nicht bis kurzem Chaos auf den WM-Baustellen? Waren nicht die meisten Einwohner des Landes gegen die WM, weil sie die Stadien zu teuer fanden? Wurde nicht Staatspräsidentin Dilma Rousseff beim Auftaktspiel im Stadion laut ausgebuht? Hat sich die Wut über unfertige Flughäfen, Straßen und U-Bahnen in Luft aufgelöst?

Reifezeugnis für Fußballfans

Soziologieprofessor Maurício Murad hat für den Wechsel zwischen Euphorie und Depression eine Erklärung: "Es gibt zwei Weltmeisterschaften im Land. In den Stadien läuft guter Fußball und draußen herrscht Enttäuschung über unerfüllte Versprechen", sagte der Soziologe von der Universität Rio de Janeiro (Uerj) in einem Interview mit dem Fernsehsender "Globo". Brasilianische Fußballfans vergäßen ihre Probleme nicht, auch wenn sie begeistert ihre "Seleção" anfeuerten. "Diese Trennung zeigt wie reif die Fans sind", sagte Murad.

FIFA Fan Fest an der Copacabana in Rio de Janeiro. (Foto: Fernando Maia/Riotur)
Die Fanmeile der FIFA an der Copacabana in Rio de Janeiro ist stets gefülltBild: Fernando Maia/Riotur

Zwei Seelen scheinen in den brasilianischen Fußballfans zu wohnen: die feiernde und die protestierende. Und auch bei der Partie gegen Kamerun zeigten sie sich. Noch kurz vor Spielbeginn protestierten in Rio an der Copacabana rund 300 Demonstranten gegen Polizeigewalt und Fifa. Sie erinnern an den Tod des Tänzers Douglas Rafael da Silva Pereira, der Ende April in Rios Armenviertel Pavão-Pavãozinho vermutlich bei einer Schießerei zwischen Drogendealern und Polizisten ums Leben kam. Wenige Minuten vor Anpfiff der Partie löste sich die Kundgebung auf.

Die Widersprüche bleiben. Während brasilianische Fußballfans zum Beispiel deutlich Abstand zur Militärpolizei halten, lassen sich Touristen mit den als Robocops uniformierten Ordnungshütern gerne fotografieren. Die "friedliche Besetzung" von Armenvierteln in Rio de Janeiro ist bei vielen Einwohnern umstritten, Fußballfans aus Europa hingegen verfolgen die WM-Spiele am liebsten in den Favelas auf den Hügeln der Stadt.

Fußballfan in Brasilien-Flaggen-Verkleidung (Foto: DW/Astrid Prange)
"Seleção"-Fans feiern ihre Mannschaft in RioBild: DW/A. Prange

Chilenen stürmen das Maracanã-Stadion

Die vor der WM noch gefürchtete Bilanz des Schreckens hat sich knapp zwei Wochen nach WM-Beginn in eine Bilanz der Erleichterung verwandelt. Die größten Probleme verursachten nicht randalierende Randgruppen und Massendemonstrationen, sondern fanatische Fußballfans oder das Wetter:

So wurden insgesamt 85 Chilenen und Argentinier des Landes verwiesen, nachdem sie am 18. Juni das Maracanã Stadion gestürmt hatten.

Und im Nordosten Brasiliens führten sintflutartige Regenfälle im Austragungsort Natal zu Erdrutschen, die ganze Häuserzeilen zum Einsturz brachten. Die Partie USA gegen Ghana im Dünen-Stadion fand trotzdem statt.

Zudem scheint die Amazonas-Metropole Manaus mit der Invasion von Fußballfans aus der ganzen Welt überfordert: In vielen Restaurants fehlen nicht nur Getränke und Speisen, sondern auch Kellner und Köche - ihnen war der Trubel schlicht zu anstrengend.

WM-Zustimmung wächst

Trotz aller Widrigkeiten scheint der WM-Blues, der Brasilien viele Monate plagte, verflogen. "Wir waren sehr besorgt, aber mittlerweile schlägt das Fußballherz der Leute höher, Brasilien kann nicht anders", meint Nelson Aguiar von der Stadtverwaltung, der für Rios Bezirk Tijuca verantwortlich ist. "Die Feste rund um die WM beeindrucken mich."

Polizisten im RoboCop-Anzug. (Foto: Salvador Scofano)
Die "Robocops" sollen für Sicherheit sorgenBild: Salvador Scofano

Laut der am Montag (23.06.2014) veröffentlichten Meinungsumfrage der brasilianischen Zeitschrift "Veja" ist die Zustimmung zur WM in der Bevölkerung seit ihrem Anpfiff von 54 Prozent auf 66 Prozent gestiegen. Die Ablehnung sank von 39 auf 27 Prozent. Die Organisation der WM wird mittlerweile nur noch von neun Prozent der Befragten als schlecht eingestuft, vor dem 12. Juni lag dieser Anteil noch bei 20 Prozent.

Beim Straßenfest "Alzirão" zelebrieren Fußballfans aus aller Welt ein brasilianisches Sommermärchen mitten im südamerikanischen Winter. Stolze Mütter heben ihre Kinder ins Scheinwerferlicht der Kameras, junge Schönheiten schwenken bei jedem Tor ihre Hüften, und die Rhythmusgruppe der Sambaschule Vila Isabel heizt den Fans ein. Brasilien feiert sich selbst.