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Brasiliens gestresste Leser

Kersten Knipp21. März 2014

In Brasilien boomt die Selbsthilfeliteratur. Die Leser suchen darin Kraft, um im Alltag zu bestehen. Der Erfolg dieses Genres zeigt, wie sehr sich das gesellschaftliche Klima in dem Land geändert hat.

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Brasilianischer Pavillion auf der Buchmesse Frankfurt (Foto: maria da Costa Pinto)
Bild: DW/C. Krippahl

Reiß es auseinander. Brich dem Buch den Rücken oder knick seine Seiten. Mit diesem Buch kannst du alles machen - vor allem kannst und sollst du es fertigmachen. Du kannst es nach Herzenslust traktieren, schänden, zerstören. Alles ist möglich mit diesem Buch, es hält es aus, ja mehr noch: Es belohnt dich sogar. Denn es zeigt dir, dass Zerstörung ein schöpferischer Akt ist, dass jenseits der Ordnung das wunderbare Reich der Kreativität beginnt.

Dies ist die Botschaft des Buches "Destrua este diário". Damit hat die kanadische Künstlerin Keri Smith das brasilianische Lebensgefühl gut getroffen: In der Liste der im Jahr 2013 meistverkauften Bücher kam es auf Platz drei. Damit setzte es jenen Siegeszug fort, den es zuvor anderswo begonnen hatte. "Wreck this journal" heißt das Buch im Original, das nach seiner Veröffentlichung 2007 im Handumdrehen den Markt eroberte, und das sich auch in der 2010 erschienen deutschen Übersetzung "Mach dieses Buch fertig" sehr beachtlich schlug.

Hohes Bedürfnis nach Sinnfragen

"Destrua este diário" ist ein eher verspieltes Exemplar jener "literatura de autoajuda", der Selbsthilfe-Literatur, die auf dem brasilianischen Buchmarkt höchste Umsätze erzielt. Unter den 20 meistverkauften Titeln des Jahres 2013 fielen fünf unter dieses Genre. Erfolgreich war auch die religiös angehauchte Literatur: Edir Macedo, Unternehmer und Gründer der in Brasilien überaus erfolgreichen religiösen Vereinigung "Igreja Universal do Reino de Deus", kam mit seinen Memoiren "Nada à perder" auf Rang zwei der Jahresbestenliste. Und der katholische Fernsehprediger Marcelo Rossi alias Padre Marcelo schaffte es mit "Kairós" auf Platz vier der Liste. Beide Bücher handeln davon, wie der christliche Glaube helfen kann, schwierige Situationen zu überstehen.

Buchcover "Mach dieses Buch fertig" von Keri Smith (Foto: Antje Kunstmann Verlag)
"Mach dieses Buch fertig" - nun auch in Brasilien ein BestsellerBild: Antje Kunstmann Verlag

Eine Künstlerin, ein Sektenführer und ein katholischer Charismatiker: Drei der vier erfolgreichsten Bestseller in Brasilien (Nummer eins besetzt der US-amerikanische Romancier John Green mit "A culpa é das estrelas" - deutscher Titel: "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" - ein ebenfalls große Sinnfragen stellender Roman) zeigen, wie groß das Bedürfnis nach Orientierung ist, das Verlangen, neue Quellen von Kraft und Inspiration zu erschließen.

Umkämpfter Markt

Der Boom dieser Bücher lasse auf vielfache Weise den Zustand der brasilianischen Gesellschaft erkennen, erklärt der an der Universität von Rio Grande do Sul lehrende Soziologe und Philosoph Francisco Rüdiger. Zunächst einmal zeige er, wie kommerzialisiert der brasilianische Buchmarkt längst sei: "Es handelt sich um jenes Phänomen, das Adorno als Kulturindustrie bezeichnet hat. Es geht darum, kulturelle Bedürfnisse zu erkennen, sie zu bedienen und Geld mit ihnen zu machen." Längst hätten die brasilianischen Verleger sich angewöhnt, auf den nordamerikanischen Markt zu schauen und die von dort kommenden Impulse aufzunehmen: "Auf dem Gebiet der Selbsthilfebücher sind die USA die Vorreiter. Dann folgen die westeuropäischen Länder. Und danach die Schwellenländer. Zu ihnen gehört auch Brasilien."

Wirtschaftlich sind die brasilianischen Verleger sehr darauf angewiesen, neue Bedürfnisse zu bedienen. Denn der brasilianische Markt ist überschaubar. Im Jahr 2012 existierten nach Angaben des brasilianischen Verlegerverbandes ("Sindicato Nacional dos Editores de Livros", SNEL) gut 57.000 verschiedene Titel - nicht viel für ein Land mit einer Einwohnerzahl von fast 200 Millionen. Zum Vergleich: In Deutschland mit seinen knapp 82 Millionen Einwohnern erschienen allein im Jahr 2012 rund 91.000 Titel in Erst- oder Neuauflage. Insgesamt listet das "Verzeichnis lieferbarer Titel" in Deutschland derzeit rund 1,7 Millionen Titel.

Buchhandlung Livraria da Travessa in Rio de Janeiro (Foto: Ricarda Otte)
Ort der Ruhe und Anregung: Buchhandlung in Rio de JaneiroBild: DW/R. Otte

"Schwach, zynisch, oberflächlich"

Der enge brasilianische Markt, erklärt Rüdiger, richtet sich vor allem an eine Bevölkerungsgruppe: die gebildete Mittelschicht. Aus ihr stammen die meisten Leser. Aus ihr stammen auch die meisten derer, die sich für Selbsthilfeliteratur interessieren. Das, so Rüdiger, sei vor allem durch eines begründet: den Umstand, dass diese Schichte wie keine andere die Folgen des veränderten gesellschaftlichen und ökonomischen Klimas zu spüren bekomme. "Die Menschen konkurrieren um Arbeitsplätze. Sie sehen sich hohen Anforderungen gegenüber." Das trage dazu bei, dass sich die zwischenmenschlichen Beziehungen in den letzten 20 Jahren sehr verändert hätten: "Sie sind schwach, zynisch, oberflächlich."

Den gestiegenen Anforderungen versuchen die Brasilianer zu entsprechen, indem sie sich einerseits fortbilden und andererseits Kraft und Inspiration in verschiedensten Quellen suchen. Die meisten Leser findet die Selbsthilfeliteratur nach Angaben von SNEL in der Gruppe der Menschen zwischen 18 und 49 Jahren. Berufliche Fragen und Sinnfragen liegen nahe beieinander. In einer Zeit, in der sowohl der Staat als auch die Kirche immer weniger Halt gäben, suchten die Brasilianer andere Wege, die Anforderungen zu bewältigen.

Brasilianische Schüler vor der Abschlussprüfung ENEM, Oktober 2013 (Foto: imago)
Stressfaktor Ausbildung: Brasilianische Schüler vor der AbschlussprüfungBild: imago/Fotoarena

In Brasilien, so Rüdiger, kämpfe jeder für sich selbst. Nicht nur ökonomisch, auch kulturell hat sich Brasilien zu einem modernen Industriestaat entwickelt. Das stellt die Brasilianer vor neue Anforderungen. Wie die Nordamerikaner oder die Deutschen hoffen auch die Brasilianer, die nötigen Antworten und Anregungen in den Büchern zu finden. Das kann gelingen, muss aber nicht. Lesen ist ein Abenteuer mit offenem Ausgang.