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Gesellschaft

Brasiliens Impfdrama

15. Januar 2021

Und jetzt doch. In Brasilien rückt der Impfstart näher, obwohl sich Präsident Bolsonaro weiterhin skeptisch zeigt. China und Großbritannien hoffen auf eine Notzulassung ihrer Impfstoffe am 17. Januar.

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Coronavirus - Corona-Impfstoff wird in Brasilien getestet
Eine Mitarbeiterin des brasilianischen Institutes Emilio Ribas für Infektiologie zeigt den Impfstoff Coronavac Bild: picture-alliance/dpa/A. Lucas

Es ist ein beklemmendes Szenario mitten in der Corona-Pandemie: Der Direktor eines der angesehensten öffentlichen brasilianischen Forschungsinstitute fleht die brasilianische Regierung an: "Wir verfügen über einen exzellenten Impfstoff, einen Impfstoff, der darauf wartet, benutzt zu werden! Warum nutzen wir ihn nicht?"

Coronavac lautet der Name des Impfstoffes, den der Direktor des Butantan-Instituts in São Paulo, Dimas Covas, am Dienstag erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Das renommierte biomedizinische Forschungszentrum hat das Vakzin, das auch in Indonesien und der Türkei eingesetzt wird, gemeinsam mit der chinesischen Pharmafirma Sinovac produziert.

Rund sechs Millionen in China produzierte Dosen des Impfstoffs lagern einsatzbereit im Butantan, doch sie wurden trotz steigender Infektionsraten und Todeszahlen nicht abgerufen. Denn in Brasilien gibt es bis jetzt weder eine offizielle Zulassung für Coronavac noch für einen anderen Corona-Impfstoff.

Streit  um Wirksamkeit

Brasilien Gesundheitsminister Eduardo Pazuello bei der Ankündigung des Erwerbs von Covid-19-Impfstoffe
Brasiliens Gesundheitsminister Eduardo Pazuello bestellte in der ersten Januarwoche Millionen von Coronavac-Impfdosen beim Butantan-InstitutBild: Fabio Rodrigues Pozzebom/Agência Brasil

Dies wird sich vermutlich bald ändern: Am 17. Januar wird die nationale brasilianische Arzneimittelagentur Anvisa über eine Notzulassung entscheiden. Neben Coronavac liegt noch ein anderes Vakzin auf dem Tisch, das von Brasiliens Präsident Bolsonaro bevorzugt wird: Der von der britisch-schwedischen Pharmafirma AstraZeneca entwickelte Impfstoff AZD 1222.

Nach monatelangen Querelen rückt nun der Impfstart in Brasilien näher: So unterzeichnete Brasiliens Gesundheitsminister Eduardo Pazuello in der ersten Januarwoche noch vor der Zulassung einen Vertrag mit dem Butantan Institut, der die Lieferung von mehr als 100 Millionen Dosen des Coronavac-Impfstoffes im Laufe des Jahres an das Ministerium vorsieht.

Außerdem sollen in der dritten Januarwoche zwei Millionen Dosen des Impfstoffes von AstraZeneca aus Indien eintreffen. Nach Presseberichten will nun auch Russland noch in dieser Woche eine Schnellzulassung seines Impfstoffes "Sputnik V" in Brasilien beantragen.

Der Streit um die "chinesische Impfung" ist nur ein Teil des brasilianischen Impfdramas, das zu einem Machtkampf ausgeartet ist. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro, der nicht nur mit China, sondern auch mit dem Gouverneur des Bundesstaates São Paulo, João Doria, eine tiefe politische Feindschaft pflegt, tat den Impfstoff mehrfach als unwirksam ab.

Brasilien – Bolsonaro und das Coronavirus

Feindbild China

"50 Prozent Wirksamkeit, ist das wirklich gut?", fragte der Präsident zu Beginn der Woche erneut seine Anhänger in Brasilia. Butantan-Direktor Dimas Covas konterte bei der Vorstellung des Impfstoffes mit Fakten. Die Effizienzrate von 50,38 Prozent gelte bei einem leichtem Krankheitsverlauf ohne ärztliche Behandlung. Bei einem mittelschweren Krankheitsverlauf mit notwendiger ärztlicher Versorgung steige sie auf 78 Prozent.  

Doch nicht nur die Zweifel an "der chinesischen Impfung", wie Bolsonaro Coronavac nennt, sondern die allgemeine Skepsis des Präsidenten gegenüber Impfungen haben sich mittlerweile auf große Teile der brasilianischen Bevölkerung übertragen. So hatte Bolsonaro, der bereits eine Coronainfektion durchgemacht hat, mehrfach erklärt, er selbst werde sich auf keinen Fall impfen lassen.

"Viele Leute sagen, dass sie fragen werden, ob die Impfung aus China kommt. Wenn sie aus China kommt, wollen sie den Impfstoff nicht", weiß Carlos Lula, Vorsitzender des Nationalen Rates der Gesundheitsminister aus den 27 brasilianischen Bundesstaaten. Er schätzt, dass die Impfung der rund 220 Millionen Brasilianer sich bis Ende März 2022 hinziehen wird.

"Es wird dauern, bis die Gesellschaft davon überzeugt werden kann, dass diese Art von Debatte sinnlos ist." Schließlich komme fast alles aus China, so Lula. "Auch jede Einwegspritze, egal mit welchem Impfstoff sie befüllt wird."

Brasilien Corona l Proteste gegen Coronaimpfung und Joao Doria, Sao Paulo
"Maskenpflicht? Nein sagen ist ein Recht": Viele Anhänger Bolsonaros wollen weder Masken tragen noch sich impfen lassenBild: Neslon Almeida/AFP

Einwegspritzen, verzweifelt gesucht

Und genau diese sind gerade Mangelware. Da in Brasilien Millionen an Einwegspritzen und Nadeln fehlen, ließ die Regierung am 6. Januar dieses Jahres die Einfuhrzölle auf diese und alle anderen für die Impfung notwendigen Produkte aus China aufheben.

Gesundheitspolitiker Carlos Lula hofft, dass nach der Einfuhr der Hilfsmittel und der Notzulassung der Impfstoffe die Hindernisse überwunden und schnell mit der Immunisierung der Bevölkerung begonnen werden kann. "Wir sind sehr spät dran", kritisiert er. "Aber unser Vorteil ist, dass die Impfstoffe nicht importiert, sondern im Land selbst produziert werden."

Die größte Herausforderung sei nun, die vom Präsidenten selbst geschürten Vorbehalte gegenüber Impfungen, insbesondere Coronavac, zu überwinden. Brasiliens mächtige Ärztevereinigung AMB will nicht länger warten und hat bereits eine entsprechende Kampagne gestartet.

"Seit dem Impfstart am 8. Dezember 2020 in Großbritannien sind weltweit 23 Millionen Menschen in 50 Ländern geimpft  worden. An Corona sind weltweit 1,9 Millionen Menschen gestorben", heißt es in einer am Mittwoch veröffentlichten Stellungnahme. Brasilien beklagt mehr als 200.000 Corona-Tote.