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Utöya-Überlebender erinnert sich

Lars Bevanger/ Dagmar Breitenbach23. April 2012

Zum Auftakt der zweiten Prozesswoche gegen Anders Breivik kam der Attentäter erneut zu Wort. Für die Überlebenden des Blutbads auf der Ferieninsel werden die furchtbaren Erinnerungen wieder lebendig.

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A man places a Norwegian flag between flowers in Utvika in front of the Utoya island, near Oslo, Norway, Tuesday, July 26, 2011, where a gunman Anders Behring Breivik killed at least 76 people. The defense lawyer for Anders Behring Breivik said Tuesday his client's case suggests he is insane, adding that someone has to take the job of defending him but that he will not take instructions from his client. Geir Lippestad told reporters that the suspect in the bombing on the capital and the brutal attack on a youth camp that killed at least 76 people is not aware of the death toll or of the public's response to the massacre that has rocked the country. (Foto:AP/dapd)
Trauer um die Opfer von UtöyaBild: dapd

Anders Breivik verglich das Leid, das er den Familien seiner Opfer zufügte, mit seiner eigenen Situation: Nach den Anschlägen vom 22. Juli habe auch er den Kontakt zu Freunden und Familie verloren, sagte der norwegische Attentäter am Montag (23.04.2012) vor Gericht. "Der einzige Unterschied war, dass ich es mir so ausgesucht habe", erklärte er. Breivik sagte auch zum wiederholten Mal, die Taten seien "grausam, aber notwendig" gewesen.     

Einer, der diese Taten überlebt hat, ist Ali Esbati. Der aus dem Iran stammende schwedische Schriftsteller und Wirtschaftsexperte entkam dem Attentäter auf der norwegischen Fjordinsel Utöya nahe der norwegischen Hauptstadt. Zum Prozessauftakt am 16. April in Oslo sah er den Angeklagten zum ersten Mal seit damals wieder.

Traurig sei das gewesen, sagt Esbati im Gespräch mit der Deutschen Welle: "Man denkt an den ganzen Kummer, der immer wieder hochkommt, an die Menschen, die ihr Leben verloren haben, Eltern, die ihre Kinder verloren haben - dieser Gedanke ist kaum auszuhalten."

Täter ohne Reue

Andererseits habe es gut getan, Breivik in dieser Position zu sehen und nicht mehr so wie damals auf Utöya, "als er mit seinem Gewehr in der Hand drohte, uns umzubringen."

Ali Esbati (Pressefoto: 'Forlaget Manifest' Verlag)
Utöya-Überlebender: Ali EsbatiBild: Forlaget Manifest

Esbati, einer der bekanntesten politischen Blogger in Schweden, ist am 22. Juli 2011 Gast beim politischen Jugendcamp auf der Insel Utöya. Als die Bombe morgens im Regierungsviertel von Oslo hochgeht, hält er gerade einen Vortrag vor den Jugendlichen.

"Nach dem Vortrag sah ich auf meinem Handy viele verpasste Anrufe und SMS. Viele machten sich Sorgen um mich und ich musste Bescheid sagen, dass es mir gut ging und ich außerhalb von Oslo in Sicherheit war", erinnert sich Esbati.

Eine trügerische Sicherheit, wie sich kurz darauf herausstellt, als er plötzlich Lärm hört: "Ich dachte, es sei ein Feuerwerk oder so etwas. Eine Frau kam hereingerannt, sie war sichtlich in Panik und aufgeregt und sagte, alle sollten sofort den Raum verlassen." Esbati rennt auf Socken aus dem Gebäude, sieht Menschen auf dem Boden liegen, die sich nicht mehr bewegen.

Flucht vor dem Massenmörder

Esbati wagt es nicht, sich schwimmend in Sicherheit zu bringen, läuft über einen schmalen Pfad davon, als er bemerkt, wie sich jemand hinter ihm im Gebüsch bewegt: "Ich drehte mich um und hörte, wie jemand mit ruhiger, aber sehr lauter Stimme sagte 'Polizei – alles ist in Ordnung'." 

(Foto: Reuters)
Anders Breivik vor GerichtBild: Reuters

Es ist Breivik, als Polizist verkleidet, mit hoch erhobenem Gewehr. Esbati läuft davon - und entkommt: "Ich erinnere mich noch gut daran, wie sich meine Muskeln im Rücken verkrampften, weil ich das unbekannte Gefühl erwartete, dass ich von Kugeln getroffen werden würde. Aber mich traf keine Kugel, und als ich mich wieder umdrehte, konnte ich ihn nicht mehr sehen."

Er sieht den Attentäter erst im Gerichtssaal wieder, wo Breivik seine Zeugenaussage dazu nutzt, eine vorbereitete Rede abzulesen. Darin kommen auch Esbati und seine Verlobte Marthe Michelet vor. Die Journalistin befasst sich sich mit Diskriminierung, Rassismus und Islamophobie und arbeitet als Kommentatorin für die norwegische Tageszeitung 'Dagbladet'.

Ideologisches Konstrukt

"Breivik bezeichnete sie als Verräterin. Als Beleg dafür nannte er die Tatsache, dass sie ein Kind mit mir hat. Das Problem ist nämlich, dass ich aus einem muslimischen Land stamme", sagt Esbati. Es zeuge von Breiviks extremen Rassismus, dass in seiner Weltauffassung demografische Themen eine große Rolle spielen. "Das motiviert ihn, und daraus glaubt er, seine Legitimation zu beziehen, die ihn dann angeblich dazu berechtigt, Taten wie diese zu begehen."

So extrem Breiviks Ansichten sind -  zu einem gewissen Grad seien sie schon fast gesellschaftsfähig, meint der schwedische Autor: "Sie finden sich immer mehr im öffentlichen politischen Diskurs und der politischen Debatte in Europa wieder."

Um dem entgegenzuwirken, so Esbati, müsse man in Europa lernen, die Gefahr, die von solch einem Rechtsextremismus für die Gesellschaft ausgehe, besser einzuschätzen. Schließlich sei das politische Umfeld, aus dem Breivik stamme, schon vor dem 22. Juli da gewesen und werde auch immer noch da sein, wenn er hinter Gittern sitzt. Und so müsse die Diskussion spätestens dann beginnen, wenn der Prozess vorbei ist - davon ist Ali Esbati überzeugt.