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PolitikEuropa

Brexit: Jetzt wirklich die letzte Runde?

Barbara Wesel
27. November 2020

EU-Unterhändler Michel Barnier ist nach London gereist für einen letzten Versuch, kurz vor Fristablauf ein Handelsabkommen mit Großbritannien abzuschließen. Die Aussichten sind allerdings schlecht.

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Kent Dover Brexit-Test
Bild: Reuters/T. Melville

Wie es vom 1. Januar 2021 an am Fährhafen Dover aussehen könnte, darauf gaben französische Zollbeamte in dieser Woche einen Vorgeschmack: Sie simulierten die Laster-Kontrollen nach dem Ende der Übergangszeit. Dann müssen alle Exporte aus Großbritannien mit detaillierten Zoll- und Inhaltserklärungen an der Grenze aufwarten.

Derzeit nutzen 3,5 Millionen LKW pro Jahr den Übergang Dover-Calais. Britische Behörden schätzen, dass 270 Millionen neue Zollerklärungen nötig werden. Der kleine Testlauf der Franzosen produzierte umgehend kilometerlange Schlangen auf der Autobahn M20 aus London. Unterdessen beklagen die Bewohner der anliegenden Region Kent den Bau eines gigantischen Lastwagen-Parkplatzes an der Abfahrt 10 der Autobahn und fürchten um ihr friedliches Leben durch künftige Staus. 

Maximale Kontrolle

Die Stimmung des Teams von EU-Chefunterhändler Michael Barnier auf dem Weg nach London schien getrübt. Aber das kann auch Diplomatie sein nach der Devise: Das Glas ist bestenfalls halbvoll. Die Gespräche waren wegen einer Corona-Infektion bei einem Mitarbeiter unterbrochen worden. Jetzt gehen sie in der britischen Hauptstadt weiter.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte am Mittwoch das Europaparlament gewarnt, dass ein Deal weiterhin nicht sicher sei. Es habe echten Fortschritt gegeben bei Themen Kooperation mit Polizei und Justiz. Der Umriss eines Vertragstextes für Güter, Dienstleistungen und Transport liege darüber hinaus auf dem Tisch. 

Drei Bereiche aber seien - wie schon seit Monaten - weiter ungeklärt: Der faire Wettbewerb, die Aufsicht über das Abkommen und die Fischerei. Man brauche "robuste" Mechanismen, um ein Abkommen umzusetzen, betonte von der Leyern. Nach dem angekündigten Vertragsbruch in London, mit dem neuen Binnenmarktgesetz die Vereinbarung für die nordirische Grenze zu kippen, hat sich die EU-Position hier verhärtet. Mangels Vertrauen geht es jetzt um maximale Kontrolle. 

Brexit-Vertrag im Europaparlament gebilligt
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Unterhändler Barnier: "Die nächsten Tage werden entscheidend sein"Bild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

"Die nächsten Tage werden entscheidend sein", fügte die Kommission-Chefin noch hinzu. Das Europaparlament hat bereits eingewilligt, eine Sondersitzung am 28. Dezember zur Ratifizierung eines Abkommens einzulegen. Die Zeit bis dahin wird für die Übersetzung und Überprüfung von 600 Seiten Rechtstext gebraucht.

Ein letzter Versuch 

Die kommende Woche wird also allgemein als letzter Termin für eine Einigung gesehen. An diesem Schild "letzte Ausfahrt" waren die Gespräche schon früher, inzwischen aber läuft den Unterhändlern objektiv die Zeit davon. Die Übergangszeit endet unausweichlich am 31. Dezember 2020.

Beim Thema fairer Wettbewerb wäre eine Einigung möglich, wenn die Partner eine Bandbreite akzeptieren, innerhalb derer sich die Produktionsstandards bewegen. Das heißt, die EU könnte sich zufrieden geben, wenn Großbritannien ähnliche Regeln etwa beim Umwelt- oder Arbeitsschutz anwenden würde.

Das Problem hierbei sind allerdings Klauseln, die eine fortlaufende Anpassung gewährleisten sollen. Für die britische Regierung ist der Brexit die Chance, von EU-Standards abzuweichen. Die EU aber will ihren Unternehmen faire Wettbewerbsbedingungen gewährleisten und Dumping-Produktion abwehren.

EU-Kommissionssprecher Daniel Ferrie dämpfte die Erwartungen: "Es gab Fortschritte in wichtigen Fragen. Doch es gibt noch drei ungelöste Streitpunkte, an denen die Entscheidung zwischen Deal oder No-Deal hängt," twitterte er. 

Beim zweiten Konfliktthema,  der Aufsicht und Kontrolle des Abkommens, will die EU zum Beispiel sofort Strafzölle erheben, wenn die britische Seite von dem Abkommen abweicht. London dagegen verweist für diesen Fall auf WTO-Regeln, die jedoch so milde sind, dass sie kaum abschrecken können. Die EU will die härtest-möglichen Straf- und Kontrollmechanismen, denn seit dem sogenannten Binnenmarktgesetz rechnet Brüssel damit, dass London das Abkommen nicht unbedingt achtet. 

Dem Bereich Fischerei kommt eine große politische Bedeutung zu. Die britische Regierung hatte ihren Fischern nach dem EU-Austritt "Kontrolle über die eigenen Gewässer" versprochen. Damit dürften EU-Fischer ab Januar in der britischen 200-Kilometer-Zone nicht mehr arbeiten.

Zuletzt wollte London der EU eine dreijährige Übergangszeit und/oder jährliche Verhandlungen über Fisch-Quoten anbieten. Michel Barnier lehnt das ab und fuhr jetzt mit dem Angebot nach London, den Briten bis zu 18 Prozent ihres Fangs zurückzugeben.

"Nicht um jeden Preis"

Unternehmen und betroffene Bürger werden derzeit durch eine Informationskampagne der Regierung  aufgefordert, sich auf den Brexit vorzubereiten. Problematisch ist dabei, dass viele Unternehmen nicht wissen, was auf sie zukommt: Ein harter Brexit mit ganz viel Verwaltungsaufwand und Kontrollen, oder ein Abkommen mit etwas weniger Belastungen.

Die jüngsten Äußerungen von Großbritanniens Finanzminister Rishi Sunak deuten nicht auf eine gestiegene britische Kompromissbereitschaft hin. Er habe Hoffnung, dass es ein Abkommen geben werde, sagte er britischen Fernsehsendern, aber die Regierung wolle es nicht "um jeden Preis". Das wäre falsch, "denn es gibt Dinge in diesen Verhandlungen, die für uns wichtig sind".

Die britische Behörde für Haushaltskontrolle hatte am Mittwoch vor einem No-Deal-Szenario gewarnt. Dadurch werde die Wirtschaftsleistung unmittelbar bis zu zwei Prozent fallen und Bereiche der Exportindustrie treffen, die von der Corona-Pandemie verschont geblieben waren.

Langfristig hatte das Amt durch den Brexit ein Schrumpfen des Bruttoinlandsproduktes von bis zu vier Prozent vorhergesagt. Finanzminister Sunak hatte sich über diese Prognosen hinweggesetzt und darauf verwiesen, dass die Konsequenzen der Corona-Krise alles andere überschatten würden.

Brüssel glaubt, dass der Brexit-Vertragsentwurf so weit fortgeschritten ist, wie die Kompetenz der Unterhändler es ermöglicht. In jedem Fall aber bleibt der Grundsatz der EU: Kein Vertrag kann die Vorteile einer Mitgliedschaft ersetzen.

Die entscheidenden politischen Kompromisse, wie weit nämlich London der EU entgegenkommen will, liegen in der Hand von Premier Boris Johnson. Und der hat bislang kein Zeichen gegeben, wie die Würfel fallen könnten.