1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Brexit - Schuldige gesucht

Barbara Wesel
8. Oktober 2019

Eine anonyme britische Regierungsquelle verbreitete, in einem Telefonat zwischen Boris Johnson und Angela Merkel habe sie die Brexit-Verhandlungen für gescheitert erklärt. An der Darstellung gibt es Zweifel.

https://p.dw.com/p/3Qtiv
Berlin | Boris Johnson und Angela Merkel
Bild: Getty Images/O. Messinger

Am Dienstagmittag warf EU-Ratspräsident Donald Tusk einen Hammer in Richtung Downing Street: "Boris Johnson: Worum es hier geht, ist kein dummes Schwarze-Peter-Spiel. Es geht um die Zukunft Europas und Großbritanniens sowie die Sicherheit und Interessen unserer Bürger. Du willst keinen Deal, du willst keine Verlängerung, du willst den Brexit nicht zurücknehmen, quo vadis?" - wie es weitergehen soll, fragte Tusk den britischen Premierminister per Twitter. Damit machte er deutlich, dass er die Veröffentlichungen eines anonymen Regierungsmitarbeiters über das Telefonat Johnson/Merkel für "Spin" hält, für eine bewusste Verdrehung.

Ein Abkommen ist "äußerst unwahrscheinlich"

Hinter den anonymen Stellungnahmen aus der Downing Street, mit denen die politischen Korrespondenten in London regelmäßig versorgt werden, stecken die Mitarbeiter des Premierministers - und immer eine Absicht. Sie sind also mit Vorsicht zu genießen. Besonders deutlich wurde das, als am Dienstagmorgen angebliche Aussagen von Bundeskanzlerin Angela Merkel aus einem Telefonat mit Boris Johnson verbreitet wurden.

Sie habe deutlich gemacht, dass ein "Abkommen äußerst unwahrscheinlich" sei und dass ein Brexit-Deal nur zustande kommen könne, wenn Nordirland dauerhaft in der EU-Zollunion und im Binnenmarkt verbleiben werde. Die EU habe eine neue Position bezogen, wonach ein Abkommen nicht nur jetzt, sondern auch für immer unmöglich sei, hieß es dazu in der Regierungsmitteilung. Außerdem sei klar geworden, dass die EU "Willens" sei, das Karfreitagsabkommen zu torpedieren.

EU-Gipfel | Brüssel | Angela Merkel
Die Bundeskanzlerin ist bekannt für ihre vorsichtigen Formulierungen - hat sie Boris Johnson wirklich die Tür zugeschlagen?Bild: AFP/Getty Images/A. Oikonomou

Schnell kamen bei britischen Korrespondenten in Berlin, etwa bei der Nachrichtenagentur AFP oder der BBC, Zweifel an der Darstellung auf. Wer Angela Merkel kennt, weiß, dass sie die Tür nicht zuschlagen würde für Gespräche, die offiziell noch im Gange sind. Die Bundeskanzlerin ist viel zu erfahren, um einen Anlass zu liefern, der Schuldzuweisungen an Berlin ermöglicht. Sie würde kaum selbst als Überbringerin der schlechten Botschaft vom Scheitern der Verhandlungen auftreten - das ist Aufgabe von Chefunterhändler Michel Barnier. Der Regierungssprecher in Berlin allerdings gab keine deutsche Lesart dazu ab, das Telefonat sei vertraulich gewesen.

Außerdem ist die Haltung der EU zur künftigen Rechtslage in Nordirland überhaupt nicht neu: Der ursprüngliche Vorschlag eines "Northern Ireland only Backstop" sah vor, dass Nordirland bis zu einer Neuordnung des Verhältnisses zwischen EU und UK in der Zollunion und den Binnenmarktregeln bleiben würde, um den grenzüberschreitenden Handel ohne Kontrollen zwischen beiden Seiten aufrechtzuerhalten. Ziel war, das Karfreitagsabkommen zu respektieren, das neue Grenzziehungen zwischen der Republik Irland und Nordirland verbietet. Der Vorschlag scheiterte allerdings am Widerstand Theresa Mays und der nordirischen DUP. 

Am Nachmittag dann präzisierte ein offizieller Regierungssprecher in London, dass der britische Unterhändler David Frost und sein Team in Brüssel weiter verhandelten. Allerdings seien "die Gespräche an einem kritischen Punkt. Großbritannien hat sich weit bewegt, jetzt müssen wir bei der EU Bewegung sehen". Das Telefonat mit Angela Merkel sei ein offener Meinungsaustausch gewesen, was allerdings bei Diplomaten "unverblümter Streit" heißt.

Schottland Unabhängigkeits-Demonstration in Edinburgh
Das Gezerre um den Brexit stärkt die Unabhängigkeitsbewegung in Schottland Bild: Getty Images/AFP/A. Buchanan

Die Absicht ist überdeutlich

Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon kam schnell zu dem Ergebnis, dass es hier um das Spiel mit der Schuldzuweisung gehe. "Der Versuch der britischen Regierung, die Schuld für das Brexit-Fiasko auf alle außer sich selbst zu schieben - heute trifft es Merkel - ist bejammernswert offensichtlich", schrieb sie auf Twitter.

Auch der Oppositionsabgeordnete Keir Starmer hält die Indiskretionen für ein abgekartetes Spiel und einen zynischen Versuch der Regierung, die Verhandlungen zu sabotieren. "Johnson wird nie die Verantwortung dafür übernehmen, dass er keinen glaubwürdigen Deal vorgelegt hat." Und sein Kollege Tom Watson fügt hinzu, dass das "Blame-Game", das Spiel um die Schuldzuweisung, genauso funktioniere: Boris Johnson nutze anonyme Veröffentlichungen, um sein Land zu einem harten Brexit zu bringen.

Sogar der lettische Botschafter in Großbritannien macht den gleichen Punkt: "Aha, jetzt hat also das versprochene Spiel um die Schuldzuweisung begonnen. Kritisches Denken und verlässliche, offene Quellen sind an diesem wichtigen Zeitpunkt entscheidend", schreibt Baiba Braze.

Und die Sprecherin der EU-Kommission sagte nur kühl, dass man ja wohl nicht von einem Abbruch der Gespräche reden könne, solange in Brüssel noch Verhandlungen zwischen beiden Seiten stattfinden würden. Die ganze Geschichte sieht so aus, als ob die Regierung Johnson so früh wie möglich die Deutungshoheit über den erwarteten Fehlschlag bei den Gesprächen an sich reißen wolle.

Der Minister zur Vorbereitung des Brexit schürte bei der Debatte im Unterhaus noch das Feuer: "Wir in dieser Regierung sind bereit zum Kompromiss. Wir zeigen Flexibilität. Wir wollen einen Deal. Aber gegenüber der Verzögerungs- und Störungstaktik der Opposition sagen wir im Namen von 17,4 Millionen Brexit-Wählern: Genug, genug, genug - wir müssen raus", appellierte Michael Gove. Das ist die andere Front der auserwählten Schuldigen: das Unterhaus mit seinen Bedenken und Forderungen - zumindest für einen geregelten Brexit.

DW Videostill Frankreich Hafen in Calais
Der Hafen von Calais hat schon Übungen für den Fall eines harten Brexit abgehalten - er würde zu einem der NadelöhreBild: DW

Wie weiter?

Das Parlament beendet am Dienstagabend seine letzte Sitzung, bevor es für die Regierungserklärung der Queen in Pause geht. Sie findet am kommenden Montag mit dem üblichen Pomp von Krone und Kutsche statt. Den Rest der Woche über werden dann traditionsgemäß die darin vorgestellten Pläne der Regierung diskutiert. Da geht es dann um Straßenbau und Gesundheitswesen - als Elefant im Raum, immer dabei, aber nicht Teil der Debatte, ist der Brexit.

Für das Unterhaus bedeutet dieser Ablauf, dass es erst ab 21.Oktober wieder normal handlungsfähig ist, wenn man nicht irgendwie Schlupflöcher in den Regeln finden kann. Wollte die Opposition also noch ein Misstrauensvotum in Gang setzen, um Boris Johnson rechtzeitig vor dem Brexit-Datum zu stürzen, oder braucht es erneut die Hilfe der Gerichte, um ihn zu einem Verlängerungsantrag zu zwingen, bleiben gerade einmal zehn Tage. Das ist außerordentlich knapp genäht, um noch einen harten Brexit zu verhindern. Den Gegnern eines harten Brexit rennt in London die Zeit davon.