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Das Brexit-Chaos rückt näher

Nicolas Martin
11. Dezember 2018

Neuwahlen, zweites Referendum, harter Brexit oder gar nichts? Mehrere Optionen liegen in Großbritannien nun wieder auf dem Tisch. In der deutschen und britischen Wirtschaft dominiert derweil verzweifeltes Kopfschütteln.

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Tower Bridge in London
Bild: picture-alliance/empics/V. Jones

Auf der einen Seite die Wirtschaft auf der Insel - auf der anderen die deutschen Unternehmen, die mit britischen Firmen Handel treiben. Sie alle eint nach dem gestrigen Tag eines: Ratlosigkeit. Denn niemand weiß genau, wie es nach der vertagten Brexit-Entscheidung im Unterhaus nun weitergeht.

Im Januar will Theresa May wohl nun abstimmen lassen. Doch angesichts des ausgehandelten Austrittsdatums am 29. März 2019 ist da nicht mehr viel Puffer. Die Angst vor einem unkontrolliertem Brexit ist wieder da. Die Premierministerin geht deshalb nun auf Europatour, um nachzuverhandeln.

"Ein beispielloses Desaster"

Doch was wird Mays Europa-Expressreise bringen? Kommt es zu Neuwahlen? Einem zweiten Referendum oder eben zum gefürchteten harten Brexit - also einem Ausstieg ohne  juristischem Rahmenwerk? All diese Varianten liegen wieder auf dem Tisch und all das macht die deutsche Wirtschaft nervös. 

Niederlande Treffen Theresa May und Mark Rutte
An Tag Eins nach der verschobenen Abstimmung wirbt May in den Niederlanden bei Premierminister Mark Rutte für Nachbesserungen am Brexit-VertragBild: Reuters/P. van de Wouw

"Die Wahrscheinlichkeit eines harten Brexit ist, nachdem die gestrige Abstimmung vertagt wurde, wieder einmal gestiegen", kommentiert Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) im DW-Interview. "Das ist ein beispielsloses Desaster", schreibt der Präsident des Außenhandelsverband BGA, Holger Bingmann. "Nur drei Monate vor dem Stichtag wissen die Unternehmen noch immer nicht, was auf sie zukommt und wie es weitergehen soll. Damit rollt die nächste Welle des Brexit-Bebens auf beide Seiten des Kanals zu", so Bingmann weiter.

Scheitert Theresa May bei ihrem zweiten Anlauf im Unterhaus, oder lehnt die EU Nachverhandlungen ab, würden am 29. März schlagartig alle Beziehungen aus 45 Jahren EU-Mitgliedschaft gekappt. "Sollte es tatsächlich Ende März zu einem harten Brexit kommen, wird sich die mangelhafte Vorbereitung rächen", sagt Michael Hüther vom arbeitgebernahen IW.

Auch der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) warnt: Die Unternehmen müssten sich schnellst möglichst auf einen ungeordneten Ausstieg Großbritanniens einstellen, hieß es auf der Jahres-Pressekonferenz des Verbandes. 

Schneller Deal oder nationale Krise

"Das ist ein massiver Schlag für alle Unternehmen, die auf Klarheit hofften", sagt Carolyn Fairbairn der "Financial Times". Die Generaldirektorin des Verbands der britischen Industrie beklagt, dass Investmentvorhaben nun seit zweieinhalb Jahren auf Eis lägen. "Wenn es nicht schnell einen Deal gibt, besteht die Gefahr, dass das Land in eine nationale Krise rutscht", so Fairbarin. 

Die britische Währung notierte gestern zwischenzeitlich auf dem niedrigsten Stand seit fast 20 Monaten. "Der Markt befürchtet, dass May mit dem Aufschub der Abstimmung vor allem kostbare Zeit verliert", sagt Thu Lan Nguyen, Währungsspezialistin bei der Commerzbank. Das Risiko für einen harten Brexit sei gestiegen. Sollte es dazu kommen, rechnet die Bank of England mit einem Währungsverlust von 25 Prozent. Die englische Zentralbank sieht auch die Häuserpreise demnach im Tiefflug. 

Pfund-Noten
Das britische Pfund - seit zwei Jahren immer weniger wertBild: picture-alliance/empics/C. Radburn

Volkswirte befürchten bei einem Brexit ohne konkrete Pläne für den Ausstieg einen beträchtlichen Schaden für die britische Wirtschaft. "Das Wirtschaftswachstum des Landes könnte um durchschnittlich fünf Prozent einbrechen, wenn nicht gar um ganze acht bis zehn Prozent, sollten andere Handelspartner wie die USA mit dem Abschluss eines Abkommens abwarten", so Patrice Gautry, Chef-Volkswirt der Bank Union Bancaire Privee. Vor allem die Exporte wären getroffen. Nach Einschätzungen des Kreditversicherers Euler Hermes könnte Großbritannien im ersten Jahr nach einem hartem Brexit rund 30 Milliarden Pfund verlieren. Für Deutschland sieht Euler Hermes einen Export-Verlust in Höhe von knapp acht Milliarden Euro. "Allein in der deutschen Automobilbranche würden ad-hoc rund zwei Milliarden Euro Zölle an London fällig - jährlich", rechnet IW-Chef Hüther vor. 

Zwei Extremszenarien

Den Showdown im Unterhaus hat Theresa May erst mal nur verschoben. Bis zur Abstimmung dürfte die Nervosität bei Unternehmen und Märkten hoch bleiben. Mays Niederlage im Unterhaus sei bereits jetzt eingepreist, prophezeit Peter Schaffrik, Chefsvolkswirt von RBC Capital Markets im "Handelsblatt". Es sei entscheidend, was danach passiere. Die beiden Extremszenarien, ein harter Brexit oder gar kein Brexit seien demnach wahrscheinlicher als ein Mittelweg, vermutet Schaffrik.

Erst gestern hatte auch der Europäische Gerichtshof in Luxemburg den Spielraum für die Briten indirekt erweitert. In einem Grundsatzurteil entschied der EuGH, dass Großbritannien den Brexit ohne Zustimmung der übrigen EU-Staaten eigenständig wieder stoppen könnte. Eine zweite Volksbefragung wäre so wieder denkbar. Für die Wirtschaft zählt vor allem eines: "Man will nun endlich wissen, worauf man sich einzustellen hat", sagt Michael Hüther vom IW.