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Briefwahlboom im Superwahljahr

14. Februar 2021

Vor allem wegen Corona, aber nicht nur: So wie in den USA werden auch in Deutschland in diesem Jahr viele Menschen ihr Kreuzchen zu Hause machen. Nicht alle sind damit einverstanden.

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Bundestagswahl Briefwahl: Eine Wahlhelferin hält am 24.09.2017 in München (Bayern) bei der Vorbereitung zur Auszählung der Briefwahl der Bundestagswahl Stimmzettelumschläge in den Händen.
Corona treibt den Trend zur Briefwahl anBild: Tobias Hase/dpa/picture alliance

Fußmarsch und dann mit lästiger Maske im Wahllokal Schlange stehen? Dann doch lieber bequem zu Hause das Kreuzchen machen und am Wahltag ausschlafen. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie ist das Wählen per Brief besonders attraktiv. Die USA haben es vorgemacht: So viele Menschen wie nie haben per Briefwahl abgestimmt - und nebenbei die Wahlbeteiligung erhöht. Briefwahl ist in Zeiten der Seuche sicherer, bequemer - und voll im Trend. Obwohl nicht gänzlich unumstritten: Für die Bundestagswahl erwarten Experten einen Briefwahlanteil von mehr als 50 Prozent. 

Die Fraktion der Grünen im Landtag von Baden-Württemberg macht es vor. In dem Bundesland wird am 14. März ein neuer Landtag gewählt, genauso wie in Rheinland-Pfalz. Die ersten zwei von insgesamt sechs Landtagswahlen 2021 und der Bundestagswahl im September. Die Grünen führen in Baden-Württemberg die Regierung an - und eine neue Kampagne ein: "Wähl doch wo du willst."

Auch die anderen Parteien - Ausnahme ist die rechtspopulistische AfD - werben in beiden Bundesländern für die Vorzüge der Briefwahl.

Neben der "klassischen" persönlichen Stimmabgabe im Wahllokal am Wahltag ist die Briefwahl in Deutschland der zweite zulässige Weg, seine Stimme abzugeben. Seit 1957 ist die Briefwahl möglich - um die "Allgemeinheit der Wahl" sicherzustellen, wie es in den Wahlrechtsgrundsätzen heißt: Auch alte, behinderte und kranke Menschen sollten ohne Probleme an einer Wahl teilnehmen können. Bis 2008 mussten Briefwähler noch darlegen, warum sie sich für die Wahl per Brief entschieden haben. Das ist heute nicht mehr nötig.

Die Hälfte der Stimmen wird als Brief erwartet

Wer per Brief wählen will, muss aktiv die Briefwahlunterlagen beantragen, sie dann ausgefüllt zurücksenden oder persönlich abgeben. Die ausgestellten Wahlscheine werden registriert; somit wird verhindert, dass ein Wähler sowohl an der Brief- als auch an der Urnenwahl teilnimmt. Anders als in manchen Bundesstaaten in den USA zählt nicht das Datum des Poststempels. Die Unterlagen müssen am Wahltag vorliegen, sonst werden sie nicht mitgezählt.

Die Briefwahl wird immer beliebter. Schon bei der letzten Bundestagswahl 2017 hat über ein Viertel der Wähler sein Kreuz zu Hause gemacht.

Infografik Briefwähler 1957-2017 Deutschland DE

Besonders in den Großstädten wird die Briefwahl intensiv genutzt. Und in den westlichen Bundesländern ist sie deutlich verbreiteter als in den östlichen. 

Experten erwarten bei den nun anstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz einen Briefwähleranteil von weit über 60 Prozent. Für die Bundestagswahl im September könnten es über 50 Prozent werden. Aber das ist natürlich von der weiteren Entwicklung bei der Corona-Pandemie abhängig.

Bei den US-Wahlen im vergangenen November war die Briefwahl ein besonders kontroverses Thema. Auch weil die Corona-Pandemie in den Vereinigten Staaten heftig tobte, hatte eine Rekordzahl von über 100 Millionen Wahlberechtigten das sogenannte "early voting" wahrgenommen: die persönliche oder postalische Stimmabgabe vor dem eigentlich Wahltermin. Das waren fast zwei Drittel aller Wähler. Von denen wiederum haben überproportional viele für den Kandidaten der demokratischen Partei gestimmt, Joe Biden. Die Wahlbeteiligung erreichte durch die vielen Briefwähler Rekordhöhe -  zum Nachteil des damaligen Amtsinhabers. Weil die politische Präferenz der Briefwähler bekannt war, wetterte Donald Trump schon lange vor dem Wahltermin gegen "early voting".

Großaufnahme von Ex-US-Präsident Trump. Er spricht am 14. 5. 2020 zu Medienvertretern
Ex-US-Präsident Trump: "Briefwahl größter Betrug der Geschichte"Bild: picture-alliance/CNP/AdMedia/A. Harrer

Die Briefwahl sei "der größte Betrug der Geschichte", zeterte Trump. Wahlunterlagen würden an "Tote und Hunde" verschickt, behauptete er. Tatsächlich gab es stellenweise Schwierigkeiten bei der Postzustellung von Unterlagen. Aber die Integrität der Wahl war an keiner Stelle gefährdet. Entsprechend wurden die Einsprüche Trumps gegen die Briefwahlergebnisse und den Wahlausgang insgesamt von den Gerichten abgeschmettert und sein Gegner Joe Biden zum Wahlsieger gekürt.

Die AfD wittert Wahlbetrug

In Deutschland bläst die rechtspopulistische AfD ins gleiche Horn wie Donald Trump. Die etablierten Parteien planten einen groß angelegten Wahlkomplott, sollte die Bundestagswahl im September möglicherweise als reine Briefwahl durchgeführt werden, macht die AfD Stimmung. Als "undemokratisch sowie verfassungswidrig" bezeichnet der stellvertretende Bundessprecher der Partei, Stephan Brandner die Briefwahl in einer Pressemitteilung. "Briefwahlen ermöglichen ein hohes Maß an Manipulation", behauptet Brandner weiter. Auf Facebook weist die AfD auf angebliche "Wahlunregelmäßigkeiten" hin.

Politikwissenschaftler Klaus Stüwe von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt hält die AfD-Behauptungen für "ein Zerrbild der Realität". Er sagte der DW am Telefon: "Da liegt der Verdacht nahe, dass taktische Motive hinter diesem Vorwurf stecken. Denn bei der AfD ist der Anteil der Briefwahlstimmen in der Vergangenheit tatsächlich teilweise erheblich kleiner gewesen als der Anteil der an der Urne erzielten Stimmen."

Professor Klaus Stüwe - Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstad, steht in einem dank großer Fenster lichtdurchfluteten Korridor
Politikwissenschaftler Klaus Stüwe: "Wahlfälschung ist eine Straftat"Bild: upd

Die Briefwahl in Deutschland hält der Forscher für ziemlich sicher. Dennoch: Niemand könne wissen, ob die Wählerin oder der Wähler zuhause wirklich unbeeinflusst, geheim und eigenständig den Wahlzettel ausgefüllt hat. Insgesamt, so Stüwe, sei aber "das Briefwahlverfahren bei uns sehr gut geregelt und hat sich in Jahrzehnten in der Praxis eingespielt. Alle Briefwahlunterlagen werden von den Wahlvorständen penibel und unparteiisch geprüft, so dass Briefwahlstimmen nicht prinzipiell unsicherer sind als die Stimmen, die klassisch im Wahllokal abgegeben werden." Manipulationsversuche in der Vergangenheit sind kaum belegt. "Wahlfälschung ist eine Straftat", ergänzt Stüwe.

Wer wählt per Brief und welche Parteien profitieren?

In einer Untersuchung haben Forscher des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) sich genauer mit Briefwählern befasst.

Dafür haben sie speziell die Bundestagswahl 2017 unter die Lupe genommen. Aiko Wagner und seine Kollegin Josephine Lichteblau kommen in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass "es gerade die sozioökonomisch Bessergestellten, formal höher Gebildeten sowie Menschen mit stärkerem politischen Interesse sind, die von der Option der Briefwahl Gebrauch machen." Mit einem Plus von 5% konnten besonders die Unionsparteien durch die Briefwahl profitieren. Auch FDP und Grüne erhielten von Briefwählern mehr Stimmen als von Urnenwählern. Bei SPD und Die Linke blieben die Anteile in etwa gleich. Die AfD wiederum hat bei den Briefwählern mit einem Minus von 5% deutlich schlechter abgeschnitten als an der Urne. 

Symbolbild Briefwahl - Ein Briefwahlumschlag mit den Stimmzetteln zur Kommunalwahl 2020 wird in Köln in einen öffentlichen Briefkasten geworfen
Besonders die Union profitiert von Briefwählern - im Gegensatz zur AfD Bild: Goldmann/picture alliance

Die USA haben es gezeigt: Eine Wahl, bei der viele Menschen ihren Wahlzettel zu Hause ausfüllen können, bringt mehr Wahlbeteiligung. Gut für die Demokratie. Die Forscher vom Wissenschaftszentrum Berlin hätten keine Bedenken, sollte die nächste Bundestagswahl coronabedingt als reine Briefwahl stattfinden. Eine "Verzerrung der Wahlergebnisse" ergebe sich dadurch nicht.

Klaus Stüwe sieht das etwas anders. Er macht darauf aufmerksam, dass die Wahl in Deutschland verfassungsrechtlich eigentlich eher als Urnen - also Präsenzwahl - gedacht sei. "Zwiespältig" sehe er daher den zunehmenden Trend zur Briefwahl. Das Wahlrecht sei ein hohes Gut: "Wird das noch deutlich, wenn man seinen Stimmzettel gewissermaßen auf dem Esstisch ausfüllt?"

 

Volker Witting
Volker Witting Politischer Korrespondent für DW-TV und Online