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"We love EU!"

Barbara Wesel und Maximiliane Koschyk, London2. Juli 2016

Sie wollen den Brexit nicht hinnehmen: Zehntausende Briten demonstrierten in London für den Verbleib des Landes in der EU. Sie hoffen auf das Parlament und Neuwahlen. Aus London Barbara Wesel und Maximiliane Koschyk.

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Großbritannien: Proteste gegen Brexit in London (Foto: Reuters/N. Hall)
Bild: Reuters/N. Hall

Die ganze Familie ist aus Wales gekommen: "Es geht um die Zukunft unserer Jungs", sagt Mutter Lucy und schiebt die Kinder nach vorn, denen sie EU-Fähnchen auf die Wangen gemalt hat. "Das sind doch durchgedrehte Rechte, die das angerichtet haben", schimpft sie und nennt die Anführer der Brexit-Kampagne Boris Johnson und Nigel Farage einfach nur "abscheulich". Die vier Waliser sind extra für diese Demonstration nach London gereist: Viele Teilnehmer des "March for Europe" sind keine Hauptstädter, obwohl in den kleinen Städten und auf dem Land die Mehrheit für den Brexit gestimmt hat, gibt es auch dort Andersdenkende.

Zukunftsangst und Reue

John ist aus Manchester gekommen: "Ich mache Animationen für Filme und die Hälfte meiner Kollegen kommt aus der EU. Unsere Firma ist aus Irland und ich fürchte, dass sie die britische Niederlassung wieder dicht zu machen, wenn wir aus der EU raus sind." Der Morgen nach dem Referendum war in seinem Büro wie eine "Totenwache", beschreibt John, alle hätten nur erstarrt rumgesessen. Auch der Kuchen und der Trost vom Chef hätten da nicht geholfen.

Die meisten ihrer Wahlversprechen haben die Politiker der "Leave" Kampagne inzwischen schon wieder einkassiert. Darunter die Zusage, sie würden jede Woche 350 Millionen Pfund für das ausgezehrte Gesundheitssystem NHS ausgeben. Krankenschwester Sarah ist empört und will vor allem ihre Kollegen nicht verlieren: "Das NHS verlässt sich stark auf Migranten und Leute von überall, wenn wir aus der EU aussteigen, würde das Gesundheitssystem zusammenbrechen."

Auch zwei Naturwissenschaftlerinnen aus Cambridge, die in ihren Laborkitteln bei dem Marsch mitlaufen, fürchten um die Zukunft ihrer Arbeit: "Die Hälfte unserer Forschungsgelder kommen aus der EU", sagen sie. Und warum haben sie die Öffentlichkeit nicht früher alarmiert, wie schädlich ein Brexit für die Universitäten wäre? "Wir haben nicht genug getan", räumen die beiden ein.

Emotionen und Appelle

Gegen Mittag hat sich die Masse der Marschierer auf dem Platz vor dem britischen Parlament versammelt. Eine bunte Menschenmenge, quer durch die Generationen, überall blaue Europafahnen und Transparente "EU-nited Kingdom" oder "We love EU". Die Leute sind emotional und aufgewühlt. Ein Video von Popstar Jarvis Cocker bekommt großen Applaus:"Wir können die Geographie nicht verleugnen. Großbritannien liegt in Europa, wir können es nicht rausreißen!"

Die Frustration loswerden

"Wir würden das Ergebnis des Referendums akzeptieren, wenn es fair zustande gekommen wäre. Aber es war voller Fehlinformationen und die Menschen müssen jetzt ihre Frustration loswerden", ruft der Mit-Organisator des Marsches, Mark Thomas, von der Bühne in die Menge. Und der allgegenwärtige Bob Geldorf, der bei keinem Protest fehlen darf, mahnt die Demonstranten, dass eine Unterschrift im Internet noch keine politische Bewegung ausmacht. Alle müssten persönlich dafür kämpfen, Großbritannien in der EU zu halten.

Als politische Plattform bringt Liberalen-Chef Tim Farron seine Partei ins Gespräch: "Ich will Deutschland und dem Rest Europas sagen, dass dieses Land seinen Nachbarn nicht den Rücken zukehren will", sagt er im Gespräch mit der DW. Seit dem Brexit-Votum haben die LibDems starken Zulauf, denn die konservative Regierungspartei verspricht, den Brexit umzusetzen. Und die Labour Party zerstört sich gerade in internen Machtkämpfen. Da bleiben von den britischen Parteien nur noch die Liberalen, und Tim Farron hofft auf baldige Neuwahlen. Dann könnten die Wähler das Referendum quasi überstimmen, noch bevor die Regierung den Artikel 50 beschließt, der den EU-Austritt in Gang setzt.

Großbritannien: Zehntausende demonstrieren gegen Brexit (Foto: Maximiliane Koschyk / DW)
Der drei Kilometer lange Marsch war unter dem Motto "March for Europe" über soziale Medien organisiert wordenBild: DW/M. Koschyk

"Mir bricht das Herz", erklärt Farron noch, "Menschen jeder Altersgruppe, sozialen Schicht und von überall im Land sind hierhergekommen, um ihre Liebe und Solidarität auszudrücken und ihre Entschlossenheit, dass wir den Brexit verhindern können".

So viele Briten, die laut ihre Liebe zu Europa erklären auf dem Platz vor dem Parlament in Westminister – das hat es wohl noch nie gegeben. Hätten sie vor ein paar Monaten den Brexiteers ihren Widerstand öffentlich gezeigt – vielleicht hätte das geholfen. "Wir haben einfach nicht geglaubt, dass es wirklich passieren würde", entschuldigen sich ein paar junge Demonstranten. Bei vielen hat inzwischen die Reue über die verpasste Chance nach der verlorenen Abstimmung eingesetzt.