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Deutscher Angriff auf die Sowjetunion

21. Juni 2011

Er gilt als größter Gewaltexzess der modernen Geschichte: der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Millionen Menschen hat er unermessliches Leid zugefügt. Gespräch mit dem Historiker und Autor Professor Wolfram Wette.

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Wehrmachtssoldaten 1941/42: Angriff der Heeresgruppe-Mitte der Wehrmacht auf Moskau ("Unternehmen-Taifun"), ab 2. Oktober 1941. (Foto: akg-images)
Bild: picture-alliance/akg-images

Deutsche Welle: Was war das Ziel dieses militärischen Unternehmens "Operation Barbarossa", das am 22. Juni 1941 begann?

Wolfram Wette: Das Ziel war, die Sowjetunion zu erobern, die Bevölkerung zu dezimieren, das Land auszubeuten - um es in ferner Zukunft mit Deutschen zu kolonisieren. Es war also ein Krieg zur Eroberung von "Lebensraum" im Osten. Man wollte die Sowjetunion bis zum Ural hin kolonisieren, um ein autarkes, blockadefestes Großdeutsches Reich vom Atlantik zum Ural zu schaffen.

War es denn auch ein rassistisch begründeter Vernichtungsfeldzug?

Das gehört unmittelbar dazu und ist untrennbar mit dem Russlandkrieg verbunden. Hitler war fest davon überzeugt, dass Russland jüdisch-bolschewistisch beherrscht sei. Und man würde diesen Raum natürlich nur erobern und für die deutschen Zwecke nutzen können, wenn diese Führungsschicht ermordet würde. Die Planungen sind getroffen worden auf der Basis einer Rede Hitlers vom 30. März 1941, die er vor jenen zweihundertfünfzig Generälen gehalten hat, die das Ostheer anführen sollten. Dabei ist ganz deutlich gesagt worden, dass es sich hier um einen Vernichtungskrieg handelt, in dem keine Gefangenen gemacht würden. Hitler sagte, der Rotarmist solle nicht als Kamerad betrachtet werden, für den das Kriegsvölkerrecht galt. In der Praxis bedeutete das, dass von 5,7 Millionen gefangenen Soldaten der Roten Armee mehr als 3 Millionen in deutschen Lagern umgekommen sind.

Die Verantwortung der Generäle

Ein Wehrmachtsgeneral und sein Stab verfolgen den Vorbeizug einer Artille- riekolonne am 20.11.1941 (Foto: akg-images)
Krieg im OstenBild: picture-alliance/akg-images

Hat es damals Widerspruch gegeben? Haben die militärischen Eliten moralische Bedenken geäußert, vor diesem Feldzug gewarnt?

Es hat vereinzelt Widerspruch gegeben. Und manche Apologeten der Wehrmacht sagen, hier habe sich der gute Kern der Wehrmacht gegenüber dem verbrecherischen Ansinnen Hitlers gezeigt. Sieht man genauer hin, so ist dieser partielle Widerspruch vom Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Keitel, weggewischt worden. Und er hat für den Verlauf, die Planung und Durchführung des Russlandkrieges keine Rolle gespielt. Die Generäle haben nicht geschlossen gegen die Vernichtungsvorstellungen Hitlers protestiert und haben sich damit zu Verfechtern dieses rassenideologischen Vernichtungsprogramms gemacht, das mit dem militärischen Krieg einherging. Sie sind auch im vollem Umfang mit verantwortlich für das, was nun auf Grund der Befehle, die auf die Hitlerrede vom 30. März hin folgten, geschehen ist.

Es gab ja zunächst rasche Erfolge für die deutsche Wehrmacht in den baltischen Staaten, auch in Weißrussland.

Man hatte den Blitzkrieg gegen Frankreich vor Augen, der im Jahre 1940 sehr schnell zu Ende gegangen war. Und man stellte sich vor, man könnte in der Sowjetunion einen vergleichbaren Blitzkrieg führen, mit der schnellen Panzerwaffe. Es herrschte die Vorstellung, Russland sei zwar ein riesiger, aber ein tönerner Koloss, der unter dem Ansturm der deutschen Wehrmacht schnell zusammenbrechen werde. Tatsächlich ging es ja in den ersten Kriegswochen ganz rasch voran. Die baltischen Länder wurden in wenigen Wochen überrannt. Und man war schon in Weißrussland, in der Ukraine. Aber im Winter, ab Dezember 1941, ging es vor Moskau nicht mehr weiter. Diese sogenannte Wende vor Moskau musste jedem in Deutschland klar machen, dass man sich hier auf ein Unternehmen eingelassen hatte, dessen Ausgang ganz unsicher war. Vielleicht hat sich ja auch der eine oder andere jetzt endlich mal daran erinnert, was Napoleon widerfahren war, als er mit seinem großen Heer in Russland scheiterte und nur mit wenigen Soldaten nach Westen, nach Frankreich zurückkommen konnte!

Millionen zivile Opfer

Deutsche Panzereinheit auf dem Vormarsch in der Ukraine im Sommer 1942 (Foto: akg-images)
Deutsche Panzer in der UkraineBild: picture alliance/akg Images

Der ganze Russlandkrieg hat viele Millionen Menschen das Leben gekostet. Drei Millionen Wehrmachts-Soldaten sind an jenem 22. Juni 1941 vor der russischen Grenze auf- und einmarschiert. Und ungefähr genau so viele kehrten nicht zurück aus dem Russlandkrieg. Russland selbst hatte aber die zehnfache Zahl von Opfern zu beklagen. Nämlich etwa 27 Millionen Menschenleben. Davon waren geschätzt zehn Millionen Rotarmisten, also kämpfende Soldaten. Mehr als drei Millionen waren

russische Kriegsgefangene in deutschen Lagern. Dann wurden drei Millionen russische Juden von den Deutschen systematisch ermordet. Und es bleibt ein Rest von sechs bis zehn Millionen sowjetischen Zivilisten, über deren Schicksal man bis heute mangels historischer Forschung in Deutschland und in Russland noch viel zu wenig weiß. Etwa sechs Millionen sowjetischer Zivilisten fielen in irgendeiner Weise der deutschen Vernichtungspolitik zum Opfer. Sei es durch die systematischen Hungerpolitik, die von deutscher Seite betrieben wurde, sei es durch das Abfackeln von Dörfern und Städten und andere Grausamkeiten. Wir haben mindestens doppelt so viele zivile Kriegstote in der Sowjetunion, an die in Deutschland viel mehr erinnert werden müsste. Denn sonst entsteht eine völlige Schieflage bei der Bewertung der Opferzahlen.

Legende von der sauberen Wehrmacht

Noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg hat man in Deutschland versucht, die Verantwortung für diese schrecklichen Taten klein zu reden, zu verdrängen. Warum ist der Überfall auf die Sowjetunion eigentlich lange Zeit kein Thema gewesen?

Der Historiker Professor Wolfram Wette (Foto: Badische Zeitung)
Wolfram WetteBild: Badische Zeitung/Wolfram Wette

Nach 1945 hat die Wehrmachtselite ganz systematisch die Legende von der sauber gebliebene Wehrmacht in die Welt gesetzt. Und damit hat man gleichzeitig alle Verbrechen, die im Osten geschehen sind, der SS untergeschoben. Man hat gesagt, die haben die Drecksarbeit gemacht. Und wir haben einen völkerrechtskonformen Krieg geführt, wie sich das gehört. Diese Legende von der sauberen Wehrmacht wurde von allen, die in ihr gedient hatten, sehr gern angenommen. Auch der kleine Soldat hat gesagt, "ich habe für einen sauberen Verein gekämpft, nicht bei einer Verbrecherbande".

Und so gab es eine Kollektiventlastung, eine Kollektiventschuldung, die über Jahrzehnte hinweg getragen hat. Und es hat lange gedauert, bis die historische Forschung sozusagen erste Nadeln setzen konnte in den Korpus der Legende. Das waren nicht zuletzt die kritischen Historiker im Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg, die das getan haben. Aber die wissenschaftlich aufgemachten dicken Bücher haben naturgemäß noch nicht den Weg gefunden in die breite Bevölkerung, zumindest in die historisch, politisch interessierten Teile der Bevölkerung, auf die es ja ankommt. Das ist erst erfolgt ab dem Jahr 1995, als das Hamburger Institut für Sozialforschung die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht, Vernichtungskrieg 1941-44 in den deutschen Städten" zeigte und damit eine riesige Debatte auslöste. Und so wurde erst nach und nach überhaupt deutlich, was für einen Charakter dieser Krieg hatte.

Ein Lernprozess

Kann man denn heute sagen, dass der Krieg gegen die damalige Sowjetunion einen Platz im kollektiven Bewusstsein der Deutschen hat?

Deutsche Infanterie bei den Strassenkämpfen um Stalingrad (undatiertes Archivbild). Die Schlacht um das inzwischen in Wolgograd umbenannte Stalingrad war für die deutsche Wehrmacht 1943 die erste vernichtende Niederlage im Krieg gegen die Sowjetunion und wurde zum Wendepunkt an der Ostfront (Foto: dpa)
Deutsche Soldaten in StalingradBild: dpa

Also ich würde doch die hoffnungsfrohe Antwort geben, dass der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion inzwischen einen festen Platz im historisch-politischen Bewusstsein der Deutschen hat - zumindest derer, auf die es ankommt. Ich denke, da hat die deutsche Geschichtswissenschaft eine Menge geleistet. Und auch die Medien, indem sie das angemessen umgesetzt haben. Auch die genannten Ausstellungen. Insgesamt hat sich ein Lernprozess im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung vollzogen, über den man im Ausland nicht nur staunt, sondern auch positiv spricht. Da haben wir eine Kulturleistung vollbracht, die sich durchaus nicht verstecken muss.

Und wie sieht das auf der russischen Seite aus?

Naturgemäß ganz anders. Die Sowjetunion war eine der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges. Stalin wurde zur Zeit der Kapitulation bei den Völkern der Sowjetunion hoch geschätzt als jemand, der das Land mobilisiert, der diese riesige Rote Armee zusammen gehalten, die Rüstungsproduktion auf Trab gebracht hatte. Was schließlich zum Erfolg führte. Also alles Positive hat sich eigentlich auf die Person Stalins konzentriert - mit der Folge, dass die ganzen Stalinschen Verbrechen verdrängt wurden. Der Sieg der Sowjetunion von damals war etwas, das die Sowjetunion mehr als alles andere zusammen geschweißt, sie stabilisiert hat, ihr die Möglichkeit gegeben hat, ein halbes Jahrhundert lang Weltmacht zu sein. Insofern ist der deutsche Überfall auf die Sowjetunion für die kommunistische Herrschaft auf Dauer betrachtet eher ein Stabilitätsfaktor gewesen. Dabei war ja eigentlich beabsichtigt, die bolschewistische Herrschaft dort zu beenden.

Es ist ganz erstaunlich zu sehen, dass die russischen Menschen von heute kaum einen Hass auf die Deutschen verspüren. Niemand betrachtet den anderen als Feind. Kaum jemand empfindet Hass gegen den anderen. Das ist eine Situation, die sich die Deutschen gar nicht besser wünschen konnten und die man wirklich nicht erwarten konnte. Da ist auch in Russland ein großer Lernprozess im Laufe der Jahrzehnte vonstatten gegangen.

Das Gespräch führte Cornelia Rabitz

Redaktion: Gudrun Stegen