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Als der Krieg zu Ende war

Jochen Kürten8. Mai 2015

Wie haben die Menschen das Kriegsende erlebt? 25 Erinnerungen von Schriftstellern, Politikern und Verlegern versammelt ein Band über die letzten Wochen und Tage vor Kriegsende. Es sind zum Teil erschütternde Texte.

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Deutschland Ende des Zweiten Weltkrieges Zerstörung in Berlin (Foto: Fred Ramage/Keystone Features/Getty Images)
Bild: Fred Ramage/Keystone Features/Getty Images

Viele waren noch Kinder. Manche Jugendliche, die wenigsten schon über 18. Es sind Berühmtheiten darunter, Maximilian Schell oder Marcel Reich-Ranicki, Richard von Weizsäcker oder Hans-Dietrich Genscher. Die meisten Stimmen, die der Band "25 Geschichten von der Stunde Null" zusammengetragen hat, stammen von Deutschen. Nur einige wenige Nicht-Deutsche wie der spätere Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow oder Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel wurden aufgenommen.

Verschobene Perspektive

Es sind fast ausschließlich Prominente, mit deren Erinnerungen der Leser hier konfrontiert wird - doch damals waren sie alle noch jung, von späterer Bekanntheit noch weit entfernt. Krieg und Kriegsende erlebten sie, wie viele Millionen andere Menschen auch, vor allem als ein schreckliches und bedrückendes Ereignis - wenn auch nicht ausschließlich: Denn als Kind und Heranwachsender nimmt man die Dinge um sich herum anders war - was für einen Erwachsenen nur Krieg und Zerstörung ist, das kann für einen Sechsjährigen auch Abenteuer und Aufregung sein.

Noch immer hielt ich den Krieg für ein Abenteuer, obwohl meinem Klassenkameraden der Arm abgerissen worden war - aber das war ja ein Unfall, schreibt Armin Mueller-Stahl, der später zunächst in der DDR, dann im Westen Deutschlands als Schauspieler Karriere machen sollte und den es bis nach Hollywood trieb, über eine Begebenheit aus dem Krieg. Erst später, nachdem bei Pasewalk praktisch alle meine Klassenkameraden gefallen sind, Jungen von vierzehn oder fünfzehn Jahren, dämmerte es auch meinem Kindskopf langsam, was der Krieg bedeutete. Manchmal erscheint dann das, was gerade passiert, so schrecklich und grausam, dass auch Kinderaugen nicht mehr wegblicken können. Dann bemerkt auch ein Kind irgendwann: Das hier ist kein Abenteuerschauplatz mehr.

Buchcover Als der Krieg zu Ende war (Foto: Verlag Hoffmann und Campe)
Bild: Hoffmann und Campe

Später wurden viele dieser Erinnerungen an diese denkwürdigen Tage und Stunden zu Papier gebracht. Erinnerungen von Prominenten haben ein ganz anderes Gewicht als die der vielen Namenlosen, die das gleiche erfahren haben. Doch es sind nur wenige Texte in dem Band, die die Herausgeber sich hätten sparen können und die wohl einzig und allein aufgenommen wurden, weil die Verfasser einen bekannten Namen tragen.

Eindrucksvolle Texte

Vor allem die, die später zu Schriftstellern wurden, legen eindrucksvolle Texte vor. Eindrücklich etwa die Schilderung des Autors Ralph Giordano, der seine Erinnerung "Im Rattenloch" nennt und damit einen Hamburger Keller meint, in dem er sich mit seinen Eltern und Geschwistern versteckt hält in den letzten Kriegsmonaten und in denen Hunger, Kälte und Angst und vor allem Ratten zu ständigen Begleitern werden:

Ich habe noch genau in Erinnerung, dass wir den Hunger nicht im Magen spürten, sondern in den Kniekehlen - das ging nicht nur mir so, sondern den anderen auch. Unvergesslich. Wir waren so schwach, dass wir uns nicht mehr wehren konnten. Mein Vater wurde von den Ratten im Gesicht angebissen, ich habe eine größere Narbe an der Außenseite des linken Oberschenkels. Wir waren einfach zu schwach, uns dagegen zu wehren. Nur mit den Händen zu wedeln hat die Biester nicht abgehalten.

Sichtweise des Historikers

Nicht alle Erinnerungen an den Krieg sind so erschütternd wie die von Giordano. Einige wie die des deutsch-amerikanischen Historikers Fritz Stern sind eher analytisch und aus der Distanz geschrieben. Andere wie die des Schauspielers Maximilian Schell geben Einblick in das Lebensgefühl eines Kindes, das schon mit dem Schulalltag genügend Aufregung hat. Die Schule wird hier zur Trutzburg inmitten des Chaos: Die Schule aber war eine Institution, die Ordnung in diese Welt brachte.

Flash-Galerie Friedensnobelpreisträger 1986 Elie Wiesel (pa/dpa)
1986 bekam Elie Wiesel (M.) den FriedensnobelpreisBild: picture alliance/dpa

Die allermeisten Erinnerungen des Bandes verschaffen dem heutigen Leser einen nachhaltigen Eindruck, wie die Welt damals aus den Fugen geriet und was das ganz konkret für den Einzelnen bedeutete. Doch keiner vermag es so wie Elie Wiesel, beim Leser Erschütterung auszulösen mit einem Text, den man nicht mehr vergessen dürfte. Der aus Rumänien stammende Wiesel war mit seinem Vater zunächst ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht worden. Die letzten Wochen bis zur Befreiung erlebte er dann in Buchenwald. Der kleine Elie musste damals zusehen, wie sein Vater qualvoll starb:

Der Zustand meines Vaters wird immer schlimmer, ich weiß dass er sterben wird. Es ist der finsterste Tag in meinem Leben. Der Tag, den mein Verstand am schwersten verkraftet hat. Ich bin schwach, erschöpft, krank, ich will ihm helfen, doch ich weiß nicht, wie. Ich würde alles für ihn tun. Ich würde ihm mein Blut, mein Leben schenken. Ich will für ihn leiden, seinen Tod auf mich nehmen. Doch meine Stunde ist noch nicht gekommen. Für ihn ist es so weit.

Etwas bleibt...

Der Vater stirbt, Elie Wiesel überlebt. Was er in so jungen Jahren erlebt, wird er nie mehr vergessen. Er schreibt und publiziert über den Holocaust. 1986 bekommt er für sein Schaffen den Friedensnobelpreis. Doch das Geschehen hinterlässt unauslöschliche Spuren.

Als mein Vater stirbt, bin ich sechzehn Jahre alt. Nachdem er gestorben ist, fühle ich keinen Schmerz mehr. Ich fühle überhaupt nichts mehr: In mir ist jemand gestorben, und dieser Jemand bin ich.

Als der Krieg zu Ende war - 25 Geschichten von der Stunde Null, Hoffmann und Campe, Hamburg 2015, 336 Seiten, ISBN 978-3-455-50364-7.