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Chemiestandort mit Freizeitqualität

Kerstin Schmidt31. Oktober 2012

Bitterfeld war einst die dreckigste Stadt Europas, heute halten hier Reisebusse. Wo früher Chemieschlote qualmten und Braunkohlekrater klafften, erstreckt sich nun ein Paradies für Surfer und Segler.

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Uferpromenade an der Goitzsche Foto: Kerstin Schmidt
Bild: DW

Es ist einer dieser goldenen Tage im Spätherbst. Die Menschen sitzen auf den Café-Terrassen am Ufer der Goitzsche, einem riesigen See vor den Toren Bitterfelds. Ein Dampfer legt ab zu einer der letzten Rundfahrten der Saison; die Segeljachten liegen schon fest vertäut im Hafen. Spaziergänger und Radfahrer teilen sich einträchtig die Uferpromenade. "Als ich vor 15 Jahren das erste Tourismuskonzept für Bitterfeld geschrieben habe, wurde ich ausgelacht", erzählt Lutz Bernhardt, Geschäftsführer der Entwicklungsgesellschaft Goitzsche. "Aber heute kommen etwa eine halbe Million Besucher pro Jahr nach Bitterfeld. Das war früher undenkbar!"

"Wo der Dreck vom Himmel fällt"

Zu DDR-Zeiten machten alle einen großen Bogen um Bitterfeld. Egal, wie heiß es draußen war, in den Autos und Zügen wurden die Fenster geschlossen, um den Staub und den penetranten Geruch nicht hinein zulassen. Ausgestoßen von den Schornsteinen der großen Chemiekombinate, aufgewirbelt aus den Braunkohletagebauen. Die Bitterfelder aber konnten nicht entfliehen: Der Staub brannte in den Augen, legte sich auf alles wie ein Film. "Bitterfeld, wo der Dreck vom Himmel fällt" hieß es im Volksmund. Jeden Tag rieselten 180 Tonnen Flugasche auf die Region in der Nähe von Leipzig nieder. Bitterfeld war einer der wichtigsten Industriestandorte der DDR. Umweltschutz spielte keine Rolle, rücksichtslos wurde die Produktion vorangetrieben.

Straßenzene in Bitterfeld mit renovierungsbedürftigen, schmutzigen Häusern und schlechten Straßen Foto: Heinz Behrens (dpa)
Bitterfeld nach der Wende: Schmutzigen Häuser, schlechte Straßen, verseuchte IndustrieanlagenBild: picture-alliance/dpa

Zusammenbruch der Industrie

Mit dem Ende der DDR 1989 war Schluss mit den Umweltsünden, aber auch Schluss mit der Produktion. Die maroden Chemiebetriebe wurden abgerissen, die Braunkohleförderung eingestellt, die Altlasten saniert. "Für die saubere Umwelt mussten die Menschen einen hohen Preis bezahlten" - so Bitterfelds Oberbürgermeisterin Petra Wust. "60.000 Arbeitsplätze fielen weg. In Spitzenzeiten betrug die Arbeitslosenquote 30 Prozent."

Eine rauchender Schlot des Braunkohle-Kombinats Bitterfeld (Sachsen-Angalt). Aufnahme vom April 1990. Foto: Hermann Wöstmann (dpa)
Dreckschleuder: Braunkohle-Kombinat Bitterfeld im April 1990Bild: picture-alliance/dpa

Die Folge: Vor allem junge Menschen zogen weg, der Arbeit hinterher. Die Einwohnerzahl hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten nahezu halbiert und der Altersdurchschnitt ist stark angestiegen. Deshalb wurde Bitterfeld 2007 mit der Nachbarstadt Wolfen zu einer Gemeinde zusammengelegt. Zwar erlebt der Produktionsstandort Bitterfeld mittlerweile ein Comeback. Doch viele der neuen Arbeitskräfte sind Pendler, kommen jeden Tag aus den nahen Städten Leipzig, Halle, Dessau. Leben wollen sie nicht in Bitterfeld, nur arbeiten. Um eine Vergreisung zu vermeiden, versucht Oberbürgermeisterin Wust, verstärkt junge Familien nach Bitterfeld zu locken: mit bezahlbarem Wohnraum und freien Kindergartenplätzen.

Die einst todgeglaubte Chemieindustrie lebt

Jobmotor ist der "Chemiepark Bitterfeld Wolfen". 360 Firmen mit etwa 12.000 Mitarbeitern haben sich auf dem weitläufigen Areal angesiedelt. "Ohne die Unterstützung der Politik, ohne die massiven Fördergelder wäre der Neuanfang der Chemieindustrie nicht gelungen" - so die Einschätzung von Matthias Gabriel, dem Geschäftsführer des Chemieparks. Milliardensummen sind vom Staat in den Abriss der alten Industrieanlagen und in die Sanierung der verseuchten Flächen geflossen. Unternehmen, die sich hier neu ansiedeln wollen, müssen also für die DDR-Altlasten nicht aufkommen. So ist es zu erklären, dass der Chemiepark zu 85 Prozent ausgelastet ist - trotz hoher Umweltauflagen, die hier für die Industrie gelten. Auch internationale Investoren haben Vertrauen in den Standort: Ein Viertel der Unternehmen stammt aus dem Ausland.

Dunkle Wolken über dem Solar Valley

Zu dem neuen Image des umweltfreundlichen Industriestandortes Bitterfeld passte die Ansiedlung verschiedener Solar-Unternehmen in den vergangenen Jahren. Allen voran die Firma Q-Cells. Doch seit die Branche weltweit in die Krise geriet, musste der einstige Marktführer Insolvenz anmelden. Auch andere Produzenten von Solarstrom-Anlagen in Bitterfeld gingen pleite. Wenigstens für Q-Cells kam Ende August die erlösende Nachricht: Die Firma wird von dem südkoreanischen Mischkonzern Hanwha übernommen. Andere Unternehmen warten noch auf einen rettenden Investor. Die künftige Entwicklung im "Solar Valley", wie die Region um Bitterfeld inzwischen genannt wird, kann derzeit wohl niemand vorhersagen; alle hoffen, dass von den rund 3.000 Solar-Arbeitsplätzen möglichst viele erhalten bleiben.

Vor dunklen Wolken steht das Schild "Solar Valley" an der Autobahn 14 bei Bitterfeld-Wolfen Foto: Jan Woitas (dpa)
Rettung aus Fernost? Autobahnabfahrt zum Solar-Industriegebiet in BitterfeldBild: picture-alliance/dpa

Eine Branche aber ist mit dem Ende der DDR vollständig aus dem Leben der Bitterfelder verschwunden: die Braunkohleförderung. Zurück blieb eine 60 Hektar große Mondlandschaft vor der Stadt, der ausgekohlte Tagebau Goitzsche. Eigentlich sollte er sich bis 2011 mit Grundwasser füllen, aber die Natur war schneller: Im Hochwasserjahr 2002 trat die Mulde über die Ufer und flutete die Goitzsche innerhalb von 36 Stunden. Quasi über Nacht liegt Bitterfeld seitdem an einem riesigen See.

Vom Tagebau zum Naturschutz- und Naherholungsgebiet

Am Südufer der Goitzsche kaufte der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschlands (BUND) große Flächen, auf denen sich die geschundene Natur nach und nach selbst regeneriert. Viele Pflanzen- und Tierarten haben sich innerhalb von nur zehn Jahren in der sogenannten Goitzsche-Wildnis angesiedelt.

Der Jachthafen von Bitterfeld Foto: Kerstin Schmidt (DW)
Segelschiffe statt Braunkohlebagger: Der Jachthafen von BitterfeldBild: DW/K. Schmidt

Am Nordufer entstanden Wohnsiedlungen und Ferienhäuser, ein Jacht- und Segelhafen, Restaurants und Cafés, Badestellen und Bootsverleih. An der Goitzsche hat sich wohl der augenfälligste Wandel Bitterfelds vollzogen: Wo früher die Braunkohlebagger die Erde aufrissen, sitzen heute die Menschen bei Latte macchiato und Stracciatella-Eis in der Sonne. Dolce Vita in Bitterfeld - Strukturwandel kann so schön sein!