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Chiles Präsident Piñera ein Jahr im Amt

11. März 2011

Vor zwölf Monaten wurde Sebastián Piñera neuer Präsident von Chile. Der schwerreiche Unternehmer inszenierte sich nach Erdbeben und Grubenunglück als Krisenmanager. Doch viele Chilenen vermissen versprochene Reformen.

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Sebastián Piñera (Foto: AP)
Wahlsieger PiñeraBild: AP

"Mir gefällt die neue Regierung", meint eine Passantin in Chiles Haupstadt Santiago, "wir hatten die Concertación, die Mitte-Links-Regierung, satt." Fleißig sei der neue Präsident Sebastián Piñera, einer der Wert darauf lege, seinen Job gut zu machen. Ein Jahr nach der Vereidigung des Unternehmers Sebastián Piñera zum Präsidenten sind 42 Prozent der Chilenen mit seiner Arbeit zufrieden, das ergaben Anfang März veröffentlichte Umfragen. Größer ist allerdings die Zahl derer, die Piñera negativ beurteilen: 49 Prozent lehnen ihn ab, und 60 Prozent halten die rechtskonservative Regierung für schlechter als erwartet. Nach einem Jahr herrscht Ernüchterung. "Es ist alles beim alten geblieben", findet ein weiterer Passant aus Santiago. Piñera habe von seinen vielen Versprechen kaum etwas umgesetzt.

Viele Chilenen fragen sich, was Piñera eigentlich anders macht als die Concertación - die Ex-Regierungskoalition aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Sozialisten, die das Land nach der Pinochet-Diktatur zwei Jahrzehnte lang regierte. Eine neue Ära zeichne sich nicht ab, meint Carlos Huneeus, Direktor des Meinungsforschungsinstituts CERC, es gebe bisher mehr Kontinuität als Veränderungen. "Natürlich wurde die Regierung in ihrem ersten Amtsjahr durch das Erdbeben und das Minenunglück im Norden stark in Anspruch genommen. Dennoch hat man den Eindruck, dass der Präsident ohne einen Plan für drei oder vier tiefgreifende Reformen angetreten ist."

Das Mega-Beben am 28. Februar 2010 im Süden Chiles wurde zur ersten großen Herausforderung für den neuen Präsidenten (Foto: AP)
Das Mega-Beben am 28. Februar 2010 im Süden Chiles wurde zur ersten großen Herausforderung für den neuen PräsidentenBild: AP

Regierung will Armut weiter verringern

Piñera scheint selbst der Auffassung zu sein, dass er 2011 mehr politischen Reformeifer an den Tag legen muss. Er hat diverse Neuerungen angekündigt, unter anderem im Bildungs- und Gesundheitswesen. Die Umsetzung eines seiner Wahlversprechen, auf die vor allem die Chileninnen ungeduldig gewartet hatten, verkündete er Anfang März: die Verlängerung des bezahlten Mutterschutzes bis sechs Monate nach der Geburt. Das Gesetzesprojekt muss nun den Kongress passieren, in dem die Regierung keine eigene Mehrheit hat. Ein wichtiges Thema auf der politischen Agenda bleibt der Wiederaufbau in den Regionen, die im Februar 2010 von einem schweren Erdbeben und Tsunami verwüstet wurden. Am Jahrestag der Katastrophe hagelte Kritik auf Piñera nieder - vor allem wegen des nur langsam anlaufenden Wohnungsbaus.

Ein weiterer Schwerpunkt der Regierung ist die Armutsbekämpfung. Geplant ist ein sogenanntes ethisches Familieneinkommen – für Chilenen, die unter der Armutsgrenze leben – und auch ein neues Ministerium für Soziale Entwicklung soll geschaffen werden. Den Wirtschaftswissenschaftler Osvaldo Larrañaga überraschen diese Vorhaben nicht: "Wenn eine Mitte-Rechts-Regierung es schafft, erfolgreich die Armut zu bekämpfen, ist das ein großer politischer Gewinn. Im Grunde nimmt sie der Linken eines ihrer traditionellen Ziele weg." Der Concertación war es gelungen, mit einer intensiven Sozialpolitik die Armutsrate deutlich zu senken – sie liegt heute bei knapp 20 Prozent. Laut Larrañaga wollten die Mitte-Links-Regierungen das soziale Netz verbessern, statt einfach nur Geld an die Armen zu verteilen. Inzwischen gehöre Chile, zusammen mit Kuba und Uruguay, zu den Ländern Lateinamerikas mit der höchsten Lebenserwartung und der niedrigsten Kindersterblichkeit.

Soziale Ungerechtigkeit bleibt groß

Piñeras (vorne rechts) größter Triumph: Am 13. Oktober 2010 gelingt nach 69 Tagen die spektakuläre Rettung von 33 verschütteten Bergleuten (Foto: AP)
Piñeras (vorne rechts) größter Triumph: Am 13. Oktober 2010 gelingt nach 69 Tagen die spektakuläre Rettung von 33 verschütteten BergleutenBild: AP


Allerdings ist Chile, dessen Wirtschaft 2010 um gut fünf Prozent wuchs, im weltweiten Vergleich immer noch eines der Länder, in denen die Kluft zwischen Arm und Reich am tiefsten ist. "Chile ist heute ein reicheres und entwickelteres, aber kein gerechteres Land", urteilt der sozialistische Kongress-Abgeordnete Marcelo Díaz, ein Vertreter der jungen Generation in der Concertación, die seit einem Jahr auf der Oppositionsbank sitzt. "Die Rechte hält daran fest, dass mit Hilfe des Marktes alle Probleme eines Landes gelöst werden können, aber in Chile funktioniert das nicht", sagt Díaz. "Chile hat 20 Jahre eines extremen Neoliberalismus' hinter sich, der auch von meiner Koalition nicht angetastet wurde. Ein Teil der Gesellschaft ist nach wie vor extrem benachteiligt." Díaz fordert noch mehr Geld für sozialpolitische Maßnahmen, und eine Steuerreform, die schon lange überfällig sei.

Nach Minenunglück Kommission eingesetzt

Armut und Benachteiligung im neuen OECD-Staat Chile offenbarte auch die Verschüttung der 33 Minenarbeiter in einem Bergwerk im Norden. Die spektakuläre Rettungsaktion im Oktober 2010 machte den Präsidenten weltbekannt. Doch die Welt erfuhr auch von den prekären Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im chilenischen Bergbau und anderen Industriezweigen. Piñera setzte eine Kommission ein, die Gesetzesänderungen zu Verbesserung der Arbeitssicherheit erarbeiten sollte. Nestor Jorquera, Vorsitzender der Bergarbeiter-Gewerkschaft CONFEMIN, ist vom bisherigen Ergebnis enttäuscht: "Den Versprechen Piñeras sind bisher nur Vorschläge der Kommission gefolgt. Und die besteht aus Unternehmern, der Regierung und Experten, aber Arbeitervertreter wurden nicht eingeladen. Wir Arbeiter haben sehr wenige Möglichkeiten, bei diesem Thema gehört zu werden."

Gaspreis-Konflikt in Region Magallanes

Brennende Barrikaden während sozialer Unruhen in der chilenischen Provinz Magallanes, im Januar 2011 (Foto: pa / dpa)
Soziale Unruhen in der Provinz Magallanes: Auf Piñera warten verschiedene RegionalkonflikteBild: picture alliance / dpa

Im Januar 2011 machte Chile erneut internationale Schlagzeilen: In der kalten Region Magallanes im extremen Süden kam es zu gewaltsamen Protesten gegen die Erhöhung der bisher stark subventionierten Gaspreise. Nach tagelangen Blockaden einigte sich die Regierung Piñera mit den Demonstranten auf eine Erhöhung um nur drei statt 17 Prozent. Für Albrecht Koschützke, Repräsentant der Friedrich-Ebert-Stiftung in Chile, bleibt der Konflikt grundsätzlich bestehen: "Mittelfristig muss das Problem der Benachteiligung von Regionen gelöst werden. Und das gilt für den extremen Süden wie für den extremen Norden. In Chile wird es in den nächsten Jahren sicher häufiger Regionalkonflikte geben, weil die Gleichförmigkeit der Entwicklung bisher überhaupt nicht gewährleistet ist." Victor Perez, Generalsekretär der rechten UDI, Piñeras Koalitionspartner, meint, dass die Regierung den Gaskonflikt selbst verschuldet habe, und hofft, dass sie daraus gelernt hat: "Wenn sie das Thema nicht nur aus einer technischen, sondern auch einer sozialen und politischen Perspektive betrachtet hätte, wäre dieser Fehler nicht passiert."

Autorin: Victoria Eglau, Santiago

Redaktion: Sven Töniges