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Zwei-Klassen-Medizin

2. Februar 2010

Viele chilenische Gemeinden können ihre Verantwortung für die gesundheitliche Fürsorge oft kaum bewältigen. Der neue Präsident Piñera hat noch mehr Autonomie aber auch mehr Geld für die kommunalen Krankenhäuser verlangt.

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(Foto:dpa)
Die chilenische Hauptstadt SantiagoBild: picture-alliance/ dpa

Luis Hernandez liegt in einem schwarzen Ledersessel. Es könnte die ideale Position für einen gemütlichen Fernsehabend sein, wenn da nicht die Kanüle in seiner Hand stecken würde. Der 55-Jährige wird gerade bestrahlt, weil man in seinem Blut Zellen entdeckt hat, die Krebs verursachen. Wenn er Glück hat, bricht die Leukämie nicht aus. Dann könnte er in drei Wochen schon wieder in Chuquicamata, dem weltgrößten Kupfertagebau im Norden Chiles, arbeiten. In der Zwischenzeit erhält der Chemiker die Hälfte seines Lohnes von seiner Privatversicherung. Für die medizinische Behandlung in der Privatklinik in Santiago muss er keinen einzigen Peso ausgeben. "Circa drei Prozent der Chilenen haben diese 100-prozentige Sicherheit für den Fall, dass sie krank werden. Im Bergbau haben das die starken Gewerkschaften durchgesetzt", sagt Hernandez.

Die Not durch Überlegen bekämpfen

(Foto: Antia Demuth/DW)
Luis Hernandez gehört zu den Wenigen mit 100-prozentigem VersicherungsschutzBild: DW

Gleiche Stadt, anderes Viertel. Ein alter Mann mit markanten Gesichtszügen sitzt in seinem bescheidenen Haus in La Legua. Hier kann sich keiner die Behandlung in einer Privatklinik leisten. Als junger Mann schuftete Enrique Molina auch als Bergarbeiter im Norden Chiles. Damals verkaufte Chile in alle Welt Salpeter für Düngemittel und Schießpulver. Als der Ersatzstoff Ammoniak erstmalig synthetisch hergestellt wurde, brach der Markt für natürliches Salpeter ein. Die Minen schlossen, die Arbeiter strömten nach Santiago. Sie ließen sich auf einem Feld am Stadtrand nieder – vorläufig, so dachte man. Doch die wenigsten Bewohner schafften den ökonomischen und territorialen Aufstieg in ein besseres Viertel. Der Name "Población en emergencia" – Notsiedlung - blieb, die sozialen Probleme auch.

Der Mann der ersten Stunde hat La Legua geformt wie kaum ein anderer. In seinen ersten Jahren in der neuen Heimat bildete er mit Genossen das "Zentralkomitee" der Kommune. Seit Jahrzehnten setzt der Kommunist Molina sich für bessere Lebensbedingungen

für seine Familie und seine Nachbarn ein. "Die Weltgesundheitsorganisation hat 1978 gesagt, dass Gesundheit keine Frage der Medizin, sondern der Kommune ist", zitiert Molina. Gute Hygiene und ausreichende Erholungsmöglichkeiten seien essentiell. "Was kann ein Arzt mit Tabletten schon ausrichten, wenn der Patient zuhause friert?", fragt Molina. Nur zu gut lässt sich das nachvollziehen an diesem nass-kalten Wintertag. In Molinas kahler Stube mit dem schummrigen Licht lässt es sich nur im dicken Pullover aushalten. Die Kanalisation hätten sie sehr schnell angeschlossen und die Menschen davon überzeugt, ihren Müll erst am Tag der Müllabfuhr auf die Straße zu stellen. Wenn Molina von seinen Erfolgen spricht, wird er euphorisch, und manchmal lacht er laut auf. "Man muss dafür kämpfen, dass sich etwas verbessert", sagt der fidele Mann mit den schlohweißen Haaren. Durch seine Beharrlichkeit haben er und seine Mitstreiter es geschafft, dass es statt der früheren drei Ärztehäuser in La Legua heute neun kleinere gibt. Somit ist der Weg zum Arzt für die Bewohner weniger beschwerlich.

(Foto: Anita Demuth/DW)
Enrique Molina kämpft für bessere Lebensbedingungen in seinem ViertelBild: DW

Kommunen brauchen mehr Geld

Sein Haus ist ein Flachbau aus großen Steinen. Das Wohnzimmer führt in einen gekachelten Innenhof, wo ein paar Hühner in Ställen gackern. Die Enkelkinder drücken ihre Nasen an die verglaste Tür, um zu sehen, mit wem der Großvater spricht. Sie sind daran gewöhnt, dass ihr Großvater Besuch erhält. Noch immer ist er politisch aktiv.

Am 17. Januar haben die Chilenen einen neuen Präsidenten gewählt. Nach fast 20 Jahren regierendem Linksbündnis konnte sich mit Sebastián Piñera zum ersten mal wieder ein rechtsgerichteter Kandidat durchsetzen. Als Mitglied der Kommunistischen Partei Chiles organisiert Molina Widerstand gegen die Pläne der rechten Parteien, die Kliniken weiter zu privatisieren. "Die Rechten wollen Gutscheine ausgeben, die man gegen medizinische Behandlung einlösen kann. Was aber passiert, wenn die Gutscheine aufgebraucht sind?", fragt Molina.

Senator Kuschel von Renovación Nacional, eine Anhänger-Partei des Ex-Diktators Augusto Pinochets, nennt andere Pläne für das Gesundheitswesen. Die Befürworter Piñeras wollen eine stärkere Dezentralisierung, das heißt mehr finanzielle Mittel für die Kommunen. "Die Kommunen erhalten immer mehr Aufgaben, aber die Mittel konzentrieren sich auf den Staat", gibt Kuschel zu bedenken. Damit spricht er zwar ein Grundproblem der Organisation des chilenischen Gesundheitswesens an, schlägt aber gleichzeitig eine Verstärkung des Problems vor. In Gegenden, wo viele arme Familien wohnen, nutzen besonders viele Menschen die staatliche Fürsorge. Die staatlichen Krankenhäuser in Santiago sind besonders überlastet, weil die Hauptstadt stark wächst. Erhalten die Kommunen allerdings noch mehr Autonomie und damit Verantwortung in der Gesundheitsversorgung, wird diese Schere zwischen sehr gut und schlecht versorgten Kommunen um so größer. Ob man stärker dezentralisieren oder zentralisieren sollte, bleibt letztlich eine politische Frage.

In öffentlichen Kliniken fehlen Fachärzte und Medikamente

"Eines ist klar: Es gibt zwei Arten der Medizin in Chile", sagt der pensionierte Arzt Günther Seelmann. Jeder Arbeitnehmer muss eine Krankenversicherung haben. Wer gut verdient, zahlt in die privatwirtschaftlichen Versicherungen ein und wird im Krankheitsfall nach neuesten Methoden behandelt. Wer wenig Lohn bezieht, muss in den staatlichen Gesundheitsfonds einzahlen. Die Behandlungen in den staatlichen Einrichtungen werden durch Steuergelder und die Pflichtbeiträge der niedrigen und mittleren Einkommensbezieher finanziert. "Es fehlt an speziellen Medikamenten, oft haben wir nur Schmerzmittel zur Verfügung. Außerdem fehlen Fachärzte und die Warteschlangen sind sehr lang", sagt Selma Peralta, die in einem staatlichen Gesundheitszentrum arbeitet.

Die gleichen Probleme sieht der pensionierte Arzt Günther Seelmann: "Das Krankenhauspersonal im öffentlichen Sektor ist schlecht bezahlt, leistet aber sehr viel. Die besten Ärzte arbeiten deswegen lieber in den Privatkliniken oder im Ausland." Seiner Ansicht nach sollte die Qualität des öffentlichen Sektors der im privaten in nichts nachstehen. Wegen seiner Ansichten von Gerechtigkeit und Gleichheit musste er nach dem Militärputsch 1973 nach Deutschland ins Exil fliehen. Noch vor Ende der Militärdiktatur kehrte der Kinder- und Jugendpsychotherapeut in seine Heimat zurück. Fortan kümmerte sich der Pädiater um Kinder, deren Eltern vom Regime verfolgt oder ermordet worden waren.

(Foto:AP)
Der neue chilenische Präsident Sebastián PiñeraBild: AP

Trotz allem gute Ergebnisse

"Privatkliniken betreiben Propaganda. Sie machen das öffentliche Gesundheitswesen schlechter, als es ist, um mehr Menschen für sich zu gewinnen", ärgert sich Seelmann. Denn trotz der Gegensätze der Zweiklassenmedizin weisen die Statistiken auf ein sehr gutes Entwicklungsstadium Chiles hin. Heute sterben laut Weltgesundheitsorganisation acht von 1000 Kindern in Chile während ihres ersten Lebensjahres, im Nachbarland Bolivien sind es 61. Chileninnen werden im Durchschnitt 81 Jahre alt, deutsche Frauen nur ein Jahr älter. Bolivianerinnen sterben dagegen im Durchschnitt bereits 17 Jahre früher. Die staatliche Fürsorge fängt jeden Chilenen auf, auch diejenigen, die nie Beiträge gezahlt haben. Ganz im Gegensatz zu den Privatversicherungen. Sie dürfen per Gesetz jedes Jahr neu überprüfen, ob sie ihre Kunden behalten wollen. Wird eine chronische Erkrankung festgestellt, wird in aller Regel der Versicherungsvertrag gekündigt. Chilenen über 50 Jahre und Schwangere findet man daher kaum unter den Privatversicherten.

Das zweigeteilte System wurde Anfang der 80er-Jahre von Diktator Pinochet eingeführt. 2005 reformierte die linke Regierung von Ricardo Lagos das Gesundheitswesen. Den Chilenen wurden Rechte auf bestimmte medizinische Leistungen verliehen, die sie einklagen können. Der Staat garantiert sowohl privat als auch staatlich Versicherten eine qualitativ hochwertige Behandlung der 55 häufigsten Krankheiten. Leukämie ist eine der abgesicherten Krankheiten. Falls bei Luiz Hernandez im schwarzen Ledersessel der Blutkrebs ausbrechen sollte, muss er sich zumindest um seine Finanzen nicht sorgen.

Autorin: Anita Demuth

Redaktion: Julia Belke