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Lassen sich chronische Rückenschmerzen abstellen?

Louisa Wright
27. September 2022

Chronische Schmerzen sind weltweit eine der Hauptursachen für Behinderungen. Neue Forschungen geben Hinweise darauf, dass wir unser Gehirn umprogrammieren können und Schmerzen so vermeiden können.

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Ein Mann sitzt auf der Bettkante und hält wegen Schmerzen seine Hände am Rücken
Millionen Menschen weltweit leiden unter chronischen Schmerzen Bild: Themendienst/dpa/picture alliance

Wie an jedem Samstag hatte Daniel Waldrip in seiner Heimatstadt Boulder, im US-Staat Colorado, den Rasen gemäht. Doch am nächsten Tag wurde Waldrip von so starken Rückenschmerzen geplagt, dass er das Bett nicht mehr verlassen konnte. Er gab dem Mähen die Schuld. Zwanzig war er damals und es sollte der Beginn von chronischen Schmerzen sein, die ihn ganze 18 Jahre quälten. Er machte zahlreiche erfolglose Behandlungen durch, darunter Physiotherapie, Akupunktur und Massage. Auch mithilfe eines Chiropraktikers versuchte er, die Schmerzen in den Griff zu bekommen. 

Schmerzen im unteren Rückenbereich sind nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO in 160 Ländern die häufigste Ursache für verschiedene körperliche Beeinträchtigungen und Behinderungen. Die meisten Physiotherapien lindern die Schmerzen nur, beseitigen sie aber nicht, und Schmerzmittel verschaffen nur vorübergehend Linderung.

"Es gab Zeiten, in denen ich mich wie gelähmt fühlte, weil ich so starke Schmerzen hatte, und es gab andere Zeiten, in denen die Schmerzen einigermaßen erträglich waren. Aber die Schmerzen waren permanent da, sie waren ein ständiger Teil meines Lebens", erzählt der heute 49-jährige Waldrip. Bis Mitte 40 hatte er mit diesen chronischen Schmerzen gelebt.

Eine neue Therapie versucht, Schmerzempfinden abzulegen

Dann hörte er von einer klinischen Studie, die zu einer neuen Therapie in seiner Heimatstadt durchgeführt wurde. Die Behandlung nannte sich Pain Reprocessing Therapy (PRT). Im Mittelpunkt stand die Wiederaufbereitung von Schmerzen.

Die PRT zielt darauf ab, die Nervenbahnen im Gehirn neu zu verdrahten, um den Schmerz so zu deaktivieren. Das Gehirn wird darauf trainiert, angemessener auf die Signale des Körpers zu reagieren. Dabei hilft die sogenannte Schmerzerziehung. Letztlich geht es darum, den Patienten die Angst vor bestimmten Bewegungen zu nehmen, die bei ihnen normalerweise zu Schmerzen führen und ihnen zu zeigen, dass es dazu eben nicht kommt, wenn sie sich auf die ihnen vertraute Art bewegen. Über vier Wochen erhielt jeder Studienteilnehmer eine telemedizinische Sitzung mit einem Arzt und acht psychologische Behandlungssitzungen.

Etwa einen Monat nach Abschluss der Studie war Waldrip zu 100 Prozent schmerzfrei. "Das ist jetzt drei oder vier Jahre her, und ich habe seit Abschluss der Behandlung kein einziges Problem mehr mit meinem Rücken gehabt. Das hat mein Leben völlig verändert", sagt Waldrip.

Was ist Schmerz und wie wird er chronisch?

Schmerz ist eine Art Alarmsystem. Es macht uns darauf aufmerksam, dass wir uns beispielsweise verletzt haben. Doch unabhängig davon, wo es im oder am Körper zu dieser Verletzung gekommen ist, Schmerz entsteht immer in unserem Gehirn.

Die Nerven senden Signale an das Gehirn, um ihm mitzuteilen, dass im Körper etwas passiert ist. Dann entscheidet das Gehirn darüber, ob es eine Schmerzempfindung auslöst. Das wiederum hängt davon ab, ob das Gehirn in der Verletzung eine Gefahr sieht und die Aufmerksamkeit darauf richtet. Wird dieses Warnsignal nicht mehr benötigt, lässt der Schmerz nach. Dies wird als akuter Schmerz bezeichnet. Es handelt sich um eine plötzliche Empfindung, die als Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis auftritt. Das kann eine Verbrennung sein, eine Operation oder jede andere Art von Verletzung.

"Es ist wirklich wichtig, dass die Menschen Schmerzen empfinden können. Schmerz ist überlebenswichtig. Manche Menschen aber haben weiterhin Schmerzen, obwohl sich ihr Körper schon wieder erholt hat", erklärt James McAuley, Psychologe und Professor an der University of New South Wales (UNSW) in Australien.

Wissenschaftler hätten zwar ihre Theorien, so McAuley, aber es sei immer noch unklar, was chronische Schmerzen verursacht oder wie es dazu kommt, dass akute Schmerzen chronisch werden. Klar ist jedoch, dass es im Gehirn zu Veränderungen kommt, wenn aus einem akuten Schmerz ein chronischer Schmerz wird.

"Die Nerven haben Fehlzündungen und teilen dem Gehirn mit, dass der Patient Schmerzen hat oder Gefahr läuft, geschädigt zu werden", sagt Steven Faux, Leiter der Rehabilitationsabteilung am St. Vincent's Public Hospital in Sydney.

Studien zeigen erste Erfolge 

151 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen nahmen an einer Studie in Boulder, Colorado, teil. Im Januar 2022 wurde sie im "Journal of the American Medical Association (JAMA)" veröffentlicht. Die Studie verglich Patienten, die Pain Reprocessing Therapy PRT erhielten, mit einer Placebo-Kontrollgruppe und einer Gruppe mit konservativer Behandlung, bei der die Patienten ihre üblichen Maßnahmen zur Schmerzbehandlung durchführten. Dazu gehörten etwa Physiotherapie oder Medikamente.

Rückenschmerz und Muskulatur

"Besonders auffallend an den Ergebnissen war, dass zwei Drittel der Menschen in der PRT-Gruppe am Ende der Behandlung schmerzfrei oder nahezu schmerzfrei waren, im Vergleich zu 20 Prozent der Kontrollgruppe", so der Hauptautor der Studie, Yoni Ashar. Er ist klinischer Psychologe und Neurowissenschaftler an der Universität von Colorado.

Die MRT-Scans des Gehirns, die vor und nach der Studie bei den Probanden durchgeführt wurden, zeigten, dass die PRT die Schmerzverarbeitung im Gehirn veränderte. "Wir konnten eine verringerte Aktivität in einer Reihe von schmerzverarbeitenden Gehirnregionen feststellen. Das zeigt, dass diese Behandlung das Gehirn verändert und die Art und Weise verändert, wie das Gehirn Schmerzen verarbeitet", erläutert Ashar.

Eine weitere Studie, die im August 2022 in JAMA veröffentlicht wurde, zeigte bei der Behandlung von chronischen Rückenschmerzen ebenfalls Erfolge bei den Patienten. Der Ansatz, der von McAuley an der UNSW in Australien entwickelt worden war, verbesserte die Kommunikation zwischen Rücken und Gehirn.

In der Studie wurden 276 Teilnehmer in zwei Gruppen aufgeteilt: Eine Gruppe absolvierte ein 12-wöchiges sensomotorisches Umschulungstraining, die andere erhielt eine 12-wöchige Scheinbehandlung. Bei denjenigen, die ein sensomotorisches Training bekommen hatten, war die Erfolgsquote doppelt so hoch wie bei den Teilnehmern der Kontrollgruppe. 24 Prozent der Teilnehmer in der Sensomotorik-Gruppe und 13 Prozent der Kontrollgruppe erholten sich vollständig von ihren chronischen Schmerzen und  bewerteten diese ein Jahr lang mit null oder eins auf einer Skala von zehn.

Schmerzmittel Paracetamol
Oft helfen bei Rückenschmerzen auch Tabletten nicht mehrBild: Marko Prpic/PIXSELL/picture alliance

Die Wortwahl kann unsere Genesung beeinflussen

In beiden Studien geht es darum, den Menschen das Vertrauen zu geben, dass sie sich bewegen können, ohne zu befürchten, dass sie sich verletzen oder dass sich ihre Schmerzen verschlimmern. Dazu gehören auch die Beschreibungen, die wir mit chronischen Schmerzen in Verbindung bringen und die Worte, die wir wählen.

Als in den 1980er Jahren qualitativ hochwertige Scangeräte entwickelt wurden, konnten Mediziner die Wirbelsäule von Menschen mit Rückenschmerzen zum ersten Mal deutlich sehen. Sie sahen Verknöcherungen, Wirbel, die aussahen, als würden sie sich auflösen und gewölbte oder verrutschte Bandscheiben. "Wir entdeckten all diese Dinge und dachten: 'Nun, wir haben den Grund für die Rückenschmerzen der Menschen gefunden'", sagt McAuley.

Erst später erkannten die Ärzte, dass ein Patient eine vorgewölbte Wirbelsäule haben kann, ohne chronische Schmerzen zu empfinden. Aber zu diesem Zeitpunkt "war das Pferd schon durchgebrannt", wie McAuley es ausdrückte. Manche Menschen nahmen an, dass sie Schmerzen haben, auch wenn das gar nicht der Fall war und das nur wegen der Worte, die wir verwendeten.

Einige Studien haben ergeben, dass negative Sprache, einschließlich des Wortes Schmerz, schon dazu führen kann, dass Menschen ihre Schmerzen auf einer so genannten Schmerzskala höher einstufen. Dies war in einer Studie aus dem Jahr 2019 besonders hervorgehoben worden. Demnach empfanden Menschen mehr Schmerzen, wenn schmerzbezogene und negative statt neutraler Wörter vor der Auslösung eines schädlichen Reizes verwendet wurden.

Stellen wir uns also vor, eine Person hätte tatsächlich chronische Rückenschmerzen und diese würden mit negativen Wörtern beschrieben und sie sähe ihre Wirbelsäule auf einem Röntgenbild. Das könnte sie dann in einer Schmerzschleife gefangen halten. Es sei denn, diese Person erhält Hilfe und lernt, ihr Gehirn umzuerziehen und anders zu denken. "Ich habe das Gefühl, dass wir an der Schwelle zu einer völlig neuen Art des Denkens und der Behandlung chronischer Schmerzen stehen", ist McAuley überzeugt.

Die neue Schmerzforschung gibt also Hinweise darauf, dass die Kommunikation zwischen dem Gehirn und dem Körper korrigiert werden kann und dass Patienten, die Jahre, manchmal Jahrzehnte ihres Lebens mit Schmerzen verbracht haben, diese endlich überwinden können.

Adaptiert aus dem Englischen von Gudrun Heise