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Claus Peymann: "Brecht ist der einzige deutsche Dramatiker von Weltrang"

Das Gespräch führte Linda Csapo19. August 2006

Claus Peymann, Intendant des Berliner Ensembles, erzählt anlässlich des Brecht-Sommers von der politischen Bedeutung des Theaters und warum er dem Regienachwuchs empfiehlt, sich in den Dienst der Dichtung zu stellen.

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Claus Peymann leitet das Berliner Ensemble seit der Spielzeit 1999/2000Bild: AP

DW-WORLD: Ist heute, 50 Jahre nach dem Tod von Bertolt Brecht, politisches und Einfluss nehmendes Theater in seinem Sinn überhaupt noch möglich?

Claus Peymann: Theater bezieht eigentlich immer eine politische Position und vertritt politische Meinungen. Es ist natürlich schwer zu überprüfen, ob Theater - auch das von Brecht - unmittelbar die Gesellschaft verändert, aber was wäre das für eine Welt ohne Theater? Man könnte sie sich gar nicht schlecht genug vorstellen.

Brecht selbst steht seinerseits ganz in der Tradition von Schiller und Lessing: Er wollte ein Theater der Aufklärung, er wollte die Mächtigen entlarven und ihnen die Masken vom Gesicht reißen. Er besaß eine ungeheure Gerechtigkeitsliebe und fühlte sich stets für die Belange der Unterdrückten verantwortlich. Ich glaube, diese Position vertritt im Herzen auch heute noch eigentlich jedes Theater.

Auf welche Art versucht das Berliner Ensemble unter Ihrer Leitung diesem Anspruch Brechts gerecht zu werden?

Berliner Ensemble Die Mutter von Bertolt Brecht
"Die Mutter" von Bertolt Brecht in einer Peymann-Inszenierung am BEBild: AP

Wir haben schon seit jeher eine ganze Reihe von ausgesprochen politischen Brecht-Stücken im Repertoire. "Arturo Ui", die große Hitler-Parabel, spielen wir zum Beispiel schon seit elf Jahren - in der großartigen Inszenierung des verstorbenen Heiner Müller.

Aber auch unsere jüngeren Brecht-Inszenierungen besitzen gesellschaftliche Sprengkraft: Zum einen ist da "Die Mutter" von Brecht nach Maxim Gorki, in der die Geschichte einer Frau erzählt wird, die im zaristischen Russland zur Revolutionärin wird. Wir spielen natürlich auch "Mutter Courage und ihre Kinder", Brechts großes Anti-Kriegsdrama, das uns so eindringlich vor Augen führt, was mit einem geschieht, wenn man am Krieg verdienen will: Mutter Courage verliert all ihre Kinder und stürzt ins Elend.

Was haben Brechts Dramen, die vor über einem halben Jahrhundert entstanden sind, uns heute noch zu sagen?

Sehr viel. Wir zeigen derzeit zum Beispiel auch "Die Heilige Johanna der Schlachthöfe", ein Drama, das in den Schlachthöfen von Chicago in den 1920er Jahren angesiedelt ist. Das Stück warnt vor den Gefahren von Monopolbildungen und ist heute aktueller denn je: Im Grunde ist schließlich auch die Globalisierung nichts anderes als eine gewaltige, Welt umfassende Monopolisierung, die uns unheimlich vorkommt, und wahrscheinlich auch sehr gefährlich werden kann. Die Menschen fühlen sich von den Folgen der Globalisierung bedroht, sie fürchten Massenarbeitslosigkeit und Armut. Und eben davon handelt auch "Die Heilige Johanna": Sie spielt in einer Zeit, die der unseren sehr ähnlich ist, und zwar als der Traum des goldenen Zeitalters weitgehend ausgeträumt war und die Weltwirtschaftskrise die Menschen in eine große Verzweiflung stürzen ließ. Diese Krise des Kapitalismus erleben wir heute in einer ähnlichen Weise. Aber das ist nur ein Beispiel dafür, wie wunderbar Brechts Stücke auch und gerade heute noch in unser Leben passen.

Admiralspalast Brecht Denkmal
Bertolt Brecht - "Der einzige deutsche Dichter von Weltruhm"Bild: Michael Bienert

Bertolt Brecht hatte seiner Jugendliebe schon als Student prophezeit, er werde eines Tages "gleich nach Goethe" kommen. Hat er da den Mund vielleicht etwas zu voll genommen?

Ganz bestimmt nicht, der gute alte BB hat es sogar ziemlich treffend prophezeit: Er ist wahrscheinlich der einzige deutschsprachige Dichter und Dramatiker von echtem Weltruhm. Bei der Zusammenstellung des Programms anlässlich seines Jubiläums haben wir das erneut festgestellt: Es gibt Aufführungen in Johannesburg und Kapstadt, in Peking und Schanghai, in Tokio, in Mexiko City, in New York und wahrscheinlich sogar am Nordpol. Er wird als einziger deutscher Dramatiker wirklich in der ganzen Welt gespielt, da liegt er weit vor Goethe. Brecht ist in dieser Hinsicht wirklich nur mit Molière, Shakespeare, Euripides und Goldoni zu vergleichen, also mit wirklichen Weltdramatikern. Wir haben nur diesen einen - Bertolt Brecht.

In deutschen Feuilletons dagegen wird dieser Tage häufig eine allgemeine Brecht-Müdigkeit in seinem eigenen Heimatland konstatiert. Wie erklären Sie sich das?

Bertold Brecht
Brecht als junger Student, 1918Bild: PA/dpa

Wenn die deutschen Bühnen zu dumm, zu konservativ oder politisch zu ängstlich sind, um Brecht zu spielen, spornt mich das eigentlich nur an, dies am Berliner Ensemble erst recht zu tun. Auch wenn man mir deswegen Museumspflege vorwirft - Museen sind sogar sehr wichtig. Sehen Sie sich die großen Kunstausstellungen der letzten Jahre an: Die Rembrandt-Ausstellung oder die Moma-Ausstellung in Berlin. Die Menschen hat es zu Hunderttausenden dorthin gezogen, gerade weil sie in der großen alten Kunst etwas für ihre Gegenwart erleben können. Brecht ist ja nun auch schon 50 Jahre tot und gehört somit zu den Klassikern - die übrigens allesamt gefährdet sind. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass Brecht uns sehr weiterhelfen kann: in unseren Ängsten, aber auch in unseren Hoffnungen für die Zukunft. Auch wenn die deutschen Theater das derzeit nicht erkennen, bin ich ganz zuversichtlich, dass sich das bald wieder ändern wird. Theater, das Menschen, die in unserer kalten, pragmatischen Welt nach einem Sinn suchen, einen Halt gibt, wird wieder wichtig werden. Dieses junge Spaß-Theater, Trash-Theater, Zerstörungs-Theater - das ist Schnee von gestern, Brecht ist die eigentliche Avantgarde.

Laut einer Studie der Gesellschaft für Erfahrungswissenschaftliche Sozialforschung hatte die Mehrheit der Deutschen zuletzt in der Schulzeit etwas von Brecht gelesen oder gesehen, danach nie wieder. Nur zwei Prozent der Deutschen setzen sich heute bewusst mit Brecht auseinander. Erschrecken Sie diese Zahlen?

Im Gegenteil! Ich finde diese Zahlen durchaus positiv. Wir müssen uns nur davon freimachen zu glauben, Kunst sei etwas für die Massen: Das ist sie eigentlich noch nie gewesen und das ist auch überhaupt nicht schlimm. Wenn Brecht aber dennoch einer der meistgespielten Dramatiker und die "Dreigroschenoper" eines der bekanntesten Stücke der Welt ist, halte ich das für absolute Erfolgsmeldungen.

Wie kann man Brecht gerade jungen Leuten nahe bringen?

Claus Peymann
Intendant Peymann im Berliner EnsembleBild: AP

Es besteht natürlich immer die Gefahr, dass einem durch die Schule, durch blöde Lehrer und einen blöden Lehrstoff der Zugang zu Brecht verbaut wird. Die Zwanghaftigkeit der Schule, das auswendig-lernen-Müssen von Kunst habe ich ja auch am eigenen Leib schmerzvoll erfahren müssen. Brecht steht da aber nicht alleine da: Ehe ich wieder unbefangen Goethe, Schiller, Thomas Mann lesen konnte, musste erst mal einige Zeit verstreichen. Da es aber immer gute wie schlechte Lehrer geben wird, dürfen wir als Künstler unsere eigene Rolle bei der richtigen Vermittlung nicht unterschätzen: Zu uns ins Berliner Ensemble kommen oft Schulklassen - und die kommen allesamt wieder. Uns liegt nämlich sehr am Herzen, den jungen Leuten die Gelegenheit zu geben, mit den Schauspielern, dem Regisseur, dem Dramaturgen zu diskutieren, das Gesehene zu verarbeiten. Kunst ist - neben der Liebe - das wohl allerschönste Erlebnis, das wir Menschen haben können. Dieses Erlebnis möchte man natürlich niemandem verleiden, und deshalb müssen wir den Nachwuchs besonders behutsam bei seinen ersten Begegnungen mit der Kunst begleiten.

Zurück zum Brecht-Fest in Berlin. Wie würdigt das Berliner Ensemble seinen Schöpfer zum 50. Todestag?

Wir haben eine ganze Reihe von internationalen Gastspielen nach Berlin geholt. Bei einigen hat es leider nicht geklappt, da Brecht eben auch oft illegal gespielt wird. In Südafrika zum Beispiel haben sehr viele Ensembles keinerlei Verträge oder Rechte, diese konnten wir natürlich nicht einladen. Aber wir haben viele schöne Aufführungen - flankiert von zahllosen Gesprächen und Diskussionen - aus Frankreich, Italien, Kroatien, auch aus Japan.

Aber das ist nur ein Teil. Wir haben, so lange das Fest läuft (3. September) auch ein durchgehendes Filmprogramm mit Brecht-Verfilmungen und Dokumentationen. Wir legen aber Wert darauf, Brecht auch als Entertainer zu zeigen: Die "Tiger Lillies", die Kessler-Zwillinge, Milva - sie alle kümmern sich um die leichte Muse.

Was mir allerdings besonders gefällt, sind die Installationen auf dem Brecht-Platz: unsere überlebensgroße, bewegliche, Brecht rezitierende Marionette zum Beispiel, ebenso wie die "wehenden Bilder": In den Bäumen hängen überall transparente Photos von Brecht, wie tibetanische Gebetsfahnen. Die Menschen können ihn so einmal auf eine ganz sinnliche Weise erleben.

Welchen Rat können Sie jungen Regisseuren geben, die sich an Brecht heranwagen wollen?

Der Kaukasische Kreidekreis
"Die Klassiker nicht verstümmeln" - Brechts Kaukasischer KreidekreisBild: PA/dpa

Ich kann nur sagen: Stellt Euch in den Dienst der Dichtung! Sucht nicht immer nur nach Eurem persönlichen Ausdruck! Junge Leute, die gerade mal 20 Jahre alt und im Stande sind, sich irgendwie zu artikulieren, halten sich sofort für einen Shootingstar. Doch zwei Jahre später sind sie meist schon wieder von der Spielfläche verschwunden. Ich glaube, man kann sich stattdessen sehr schön in den Dienst des Theaters stellen, Aufklärung betreiben, Solidarität mit den Menschen zeigen. Brecht ist eine hervorragende Schule für das Theater als moralische Anstalt. Es ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, wenn sich junge Regisseure des "Galilei", der "Courage", des "Sezuan" annehmen - nur mit der so genannten Verstümmelung der deutschen Klassik kann ich nichts anfangen.

Haben Sie ein Zitat von Brecht oder eine bestimmte Figur, die Ihnen besonders am Herzen liegt?

Ich habe keine Zitatensammlung im Kopf. Ich verliebe mich viel eher in die wundervollen Figuren, die Brecht erfunden hat, vor allem all die großartigen Frauen: Sei es die Grusche aus dem "Kreidekreis", natürlich Mutter Courage, die heilige Johanna der Schlachthöfe - sie sind es, die mich immer wieder faszinieren, von denen ich träume, die mich zum Weinen bringen. Brecht hat meiner Meinung nach mit die schönsten Frauenrollen der deutschen Theatergeschichte erfunden.