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GesellschaftAsien

Clubhouse begeistert die Iraner

Shabnam von Hein
18. April 2021

Neben Twitter etabliert sich im Iran die Plattform Clubhouse als Forum für freien politischen Austausch. Der Obrigkeit bleibt nichts übrig, als mitzumachen.

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Iran Internet Kampf
Bild: picture-alliance/AP Photo/V. Salemi

Es war ein Marathon der besonderen Art: Mehr als sechs Stunden lang beantworte die Politikerin Faezeh Haschemi Rafsandschani Fragen von iranischen Usern, Journalisten und Aktivisten aus aller Welt in einem Cyberraum auf der Clubhouse-App. Die redegewandte Tochter des früheren Präsidenten Akbar Haschemi Rafsandschani scheute keine Fragen und nahm selbst kein Blatt vor Mund. Faezeh Rafsandschani ist für ihre kritische Haltung bekannt. Wegen "Propaganda gegen das politische System" saß die ehemalige Abgeordnete aus Teheran bereits sechs Monate im Gefängnis, von September 2012 bis März 2013.

Von Dienstagabend bis Mittwoch um drei Uhr morgens verfolgten mehr als 20.000 User die Diskussion mit Faezeh Haschemi in zwei parallelen Räumen auf Clubhouse und später auf Instagram-Live. Ein Rekord. An einem virtuellen Clubhouse-Raum dürfen nur maximal 8000 User teilnehmen.

Faezeh Haschemi Rafsandschani
Faezeh Haschemi RafsandschaniBild: Tasnim

Die kritische Präsidententochter brach damit den bis dahin gültigen Rekord: Den hatte in der iranischen Cyberwelt zuvor eine umstrittene Diskussion mit dem iranischen Außenminister Mohammad Dschawad Sarif vom 31. März inne. Sarif verweigerte darin die Antwort auf etliche Fragen iranischer Journalisten, die bei  ausländischen Medien arbeiten, und erntete viel Kritik dafür.

Neue Freiheit der Kommunikation

Die neue Audio-App begeistert die Iraner. Zum ersten Mal können sie direkt und unzensiert zumindest mit den Politikern diskutieren, die sich darauf einlassen. Im Unterschied zu anderen sozialen Medien gibt es keine Möglichkeit für Einflussnahme und Angriffe unbekannter User und Trolle. Wer etwas mitteilen möchte, muss mit seiner eigenen Stimme reden. So wie Faezeh Rafsandschani.

Bei ihrem Clubhouse-Auftritt verteidigte sie zwar nach wie vor bedingungslos ihren Vater, der in den 1990er-Jahren Präsident war. Zugleich betonte sie, dass sie, wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte, die Revolution von 1979 nicht unterstützen würde. Und nein, sie glaube nicht, dass das politische System im Iran reformierbar sei. Wählen werde sie auch nicht mehr gehen. Sie glaube nicht, dass man jetzt mit Wahlen etwas zum Besseren ändern könne. Damit sprach sie vielen enttäuschten und resignierten Iranern aus der Seele. Und löste eine Welle der Begeisterung in sozialen Netzwerken aus.

"Clubhouse bietet eine fantastische Gelegenheit zum Austausch", erklärt der Soziologe Amin Bozorgian die Faszination für die neue App - die allerdings bislang nur auf dem iPhone von Apple funktioniert. "Die User von Clubhouse kommen aus der städtischen Mittelschicht und repräsentieren nicht die gesamte iranische Gesellschaft", stellt Bozorgian zugleich im DW-Gespräch klar: "Aber diese App gibt den iranischen Usern eine Plattform, um frei über ihre Sorgen zu sprechen und sich auszutauschen, innerhalb und außerhalb des Landes. Wir haben eine Gesellschaft, die in den letzten 150 Jahren immer wieder nach Wegen gesucht hat, die zu einem besseren Leben für alle Iraner führen könnten. Diese Suche ist im kollektiven Gedächtnis der Iraner - wo auch immer sie heute leben - verankert und führt zu solchen Versammlungen, sobald sich Möglichkeiten für Diskussionen über neue Wege ergeben."

Vertreter der Führung springen auf den Zug auf

Die Begeisterung für Clubhouse ist auch den Funktionären und Anhängern der Islamischen Republik nicht entgangen. Sie haben sich sehr schnell darauf eingestellt und bieten nun selbst täglich zahlreiche Diskussionsräume an und nehmen an anderen Diskussionen auf Clubhouse teil. Der Soziologe Bozorgian, der im Pariser Exil als Lehrer arbeitet, sieht das positiv. "Je erfolgreicher sie sich im Austausch und in der Einflussnahme auf die User sehen, desto weniger versuchen sie, den Zugang zu dieser Plattform erschweren. Ein gutes Beispiel dafür ist der Kurznachrichtendienst Twitter, wo fast alle iranischen Politiker einen Account haben und aktiv sind. Das legitimiert die Meinungsäußerungen anderer Iraner auf Twitter bis zu einem gewissen Grad."

Tatsächlich finden viele politische Diskussionen im Iran auf Twitter statt, obwohl der Kurznachrichtendienst offiziell gesperrt ist. Hardliner und Konservative treffen dort auf Moderate, Journalisten auf Politiker. Diskutiert wird zum Beispiel über die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im Juli und potentielle Kandidaten.

"Gewaltiges Potential"

Laut offiziellen Statistiken ist mehr als die Hälfte der 82 Millionen Iraner online. Der Zugang zu vielen populären Webseiten wie Facebook und eben auch Twitter ist zwar gesperrt. Viele Iraner umgehen die Zensur jedoch mit VPN-Zugängen. Wie viele von ihnen jetzt Clubhouse nutzen, ist nicht bekannt. Clubhouse habe aber ein gewaltiges Potential, glaubt die Frauenrechtlerin Asieh Amini. So wie viele andere Aktivisten lebt Amini wegen Repressalien im Exil. Von Norwegen aus hatte sie vergangene Woche eine Diskussion über "Rache und Gerechtigkeit" mit der Anwältin und Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi aus England und der Menschenrechtlerin Narges Mohammadi im Iran auf Clubhouse organisiert.

Menschenrechtlerin Narges Mohammadi
Menschenrechtlerin Narges Mohammadi Bild: Hrana

"Es gibt keine Grenze mehr zwischen uns", erzählt sie begeistert und fügt hinzu: "Diese Art von Austausch in größeren Runden ist einmalig. Ungefähr vier Stunden lang haben mehrere tausend Iraner, unter ihnen bekannte Dissidenten, Journalisten ausländischer Medien, Aktivisten und einfache Bürger aus der ganzen Welt, über die Wege und Möglichkeiten diskutiert, wie man Verbrecher zur Rechenschaft ziehen kann. Bei der Diskussion haben sich auch Menschen zu Wort gemeldet, die wir sonst nicht so leicht erreichen können. Zum Beispiel Eltern getöteter Demonstranten im Iran. Wir können direkt kommunizieren und Vertrauen aufbauen."