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Clubs und Festivals in Corona-Zeiten

Philipp Jedicke
16. Mai 2020

Eigentlich würde jetzt die Festivalsaison beginnen, aber Großveranstaltungen sind bis zum 31. August verboten. Wie gehen Veranstalter mit der Corona-Krise um?

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Symbolfoto eines Konzerts. Fans halten ihre Hände in die Luft, eine Band performt auf der Bühne
Bild: picture alliance / Marius Bulling

Es wird wieder wärmer in Deutschland, die Sonne lockt mehr und mehr Menschen in die Straßen und Parks. Gäbe es nicht die Mundschutzpflicht in den Läden, könnte man glatt vergessen, dass weltweit noch immer die Corona-Pandemie wütet. Ende Mai beginnt hierzulande normalerweise die Festivalsaison. Darunter sind nicht nur die weltbekannten "Riesen" wie Rock am Ring, Rock im Park, das Wacken Open Air oder Hurricane Festival. Im Gegenteil: Über ganz Deutschland spinnt sich ein dichtes Netz aus vielen mittelgroßen und kleinen Musikfestivals, gegründet von Musik-Enthusiasten, die sich seit vielen Jahren großer Beliebtheit erfreuen und treue Fans haben. Dazu gehört auch das Orange Blossom Special Festival (OBS), das in der Kleinstadt Beverungen im Weserbergland stattfindet.

Auf dem OBS sind schon viele international und deutschlandweit bekannte Musiker*innen aufgetreten, darunter Scott Matthew, Kettcar, Casper oder Fortuna Ehrenfeld. Es steht für einen Mix aus etablierten Namen und zu entdeckenden Perlen und ist für viele seiner 3.500 Besucher*innen der Höhepunkt des Jahres. Für sie wird das OBS zum Kurzurlaub, sie sehen Freunde aus anderen Teilen der Republik oder dem Ausland wieder, es wird gemeinsam gezeltet, gegrillt, gefeiert und vor allem gute Musik genossen. Das ist dieses Jahr aufgrund der bundesweiten Absage von Großveranstaltungen nicht möglich.

Konzert von The Holy beim Orange Blossom Special Festival in Beverungen. Publikum dicht gedrängt vor der Bühne
Das Orange Blossom Special lebt von seiner besonderen, familiären StimmungBild: Imago Images/P. Schickert

Mehr als nur eine Gefährdung der Branche

Rembert Stiewe ist Mitveranstalter und -gründer des Festivals. Er musste lange warten, bis die Politik in seinem Bundesland Nordrhein-Westfalen Fakten schuf und erklärte, nach welchen Kriterien ein Fest als Großveranstaltung zählt. Erst am 4. Mai, drei Wochen vor dem eigentlichen Termin, konnte Stiewe das OBS absagen. Hätte er früher aus gesundem Menschenverstand auf eigene Faust abgesagt, hätte er hohe Regressforderungen seiner Vertragspartner riskiert: "Zusätzlich zu den Einnahmeverlusten wären dann unter Umständen diese Forderungen auf uns zugekommen. Und das hätte die Veranstaltung für die Zukunft mehr als gefährdet."

Viele Arbeitsbereiche hängen an einem Musikfestival: Von Gastronomie über Sanitär bis hin zu DJ, Licht, Sound und Merchandise-Ständen sind zahlreiche Selbständige, Freiberufler und Minijobber von einer Veranstaltung abhängig. "Die sind alle von jetzt auf gleich ohne Job. Die haben nichts mehr." Noch härter als die Festivals träfe es aber die Clubs, so Stiewe. "Da speist sich die Liquidität ja normalerweise aus der Abendkasse. Und wenn nichts reinkommt, kommt nichts rein. Die Clubs sind als Erste geschlossen worden und werden als Letzte wieder aufmachen dürfen."

Einnahmen während des Lockdowns: null Euro

Einer dieser Clubs ist das Gebäude 9 in Köln. Viele internationale Künstler haben hier ihre ersten Gigs in Deutschland vor größerem Publikum absolviert. Das Gebäude 9 genießt weit über die Stadt hinaus eine Reputation, die ihresgleichen sucht. Jan van Weegen ist einer der beiden Betreiber, die hier normalerweise fast täglich Konzerte, Partys und DJ-Sets veranstalten. Ihre Veranstaltungseinnahmen im Lockdown: null Euro. "Es ist ein anhaltender katastrophaler Zustand", sagt van Weegen im DW-Interview. Er und sein Kompagnon waren gezwungen, ihre Mini-Jobber von Garderobe und Einlass vorerst zu entlassen und Soforthilfe zu beantragen. Von Stillstand ist jedoch trotz Lockdown keine Rede: "Es ist eben nicht so, dass man sich jetzt mit einem Rocklexikon gemütlich aufs Sofa legt und ein bisschen die Seele baumeln lässt. Das Geschäft läuft weiter. Seit wir diese Krise haben, gibt es nicht weniger Arbeit als vorher. Es hat sich nur verlagert." Denn die monatlichen Kosten für die Clubs laufen weiter: Miete, Versicherungen, Personal...

Konzert der Gruppe Hot Water Music im Gebäude 9 in Köln, rappelvoller Saal vor der Bühne
So sieht es im Gebäude 9 außerhalb der Pandemie aus, hier bei einem Konzert der Band Hot Water MusicBild: Jan van Weegen

Ein Ende dieser Situation ist auch nach August nicht wirklich in Sicht: "Technisch sind die Veranstaltungen verschoben worden in den Herbst oder auch schon ins nächste Jahr. Jetzt schwindet aber schon langsam die Hoffnung, dass man im Herbst normale Tourneen und Konzerte durchführen kann." Die Frage, die sich van Weegen genauso wie Stiewe ständig neu stellen muss, ist: Wie überlebt mein Geschäft diesen Zustand?

Ein Rettungsschirm für die Branche

Rembert Stiewe und seine Mitstreiter profitieren angesichts der Krise von zwei Ressourcen, die sie sich über viele Jahre aufgebaut haben: Improvisationstalent und die unvergleichliche Solidarität ihrer Fans: "Bevor es zu der offiziellen Absage (des OBS, Anm. d. Red.) kam, haben sich wirklich sehr, sehr viele Besucher bei uns gemeldet und gesagt: 'Ich will mein Geld nicht wiederhaben. Ich will nur, dass das OBS überlebt, und ich hoffe, nächstes Jahr gibt's euch noch. Deswegen verzichten wir mit unserer Clique oder mit unserer Familie darauf, das Geld zurückzufordern.' Und das waren nicht nur eine Handvoll."

Stiewe und seine Kolleg*innen, Fans und Freunde des Festivals nähen Schutzmasken aus Merchandising-Artikeln, eine befreundete Firma hat gratis Tassen mit dem Logo der diesjährigen Ausgabe bedruckt, es gibt T-Shirts mit der Aufschrift "OBS-Retter/in"... All das wird zusammen mit symbolischen Soli-Tickets im Online-Shop angeboten und tatsächlich auch rege gekauft. Doch Solidarität wird dauerhaft nicht ausreichen, um die Veranstaltungsbranche zu retten: "In den Augen der politisch Handelnden kommt noch viel zu selten heraus, dass Kultur durchaus eine Systemrelevanz hat. Wenn es nicht nur ein Lippenbekenntnis sein soll, dass ihnen etwas an Kultur liegt, kann man da nur appellieren: 'Nehmt das auch ernst.' Da muss wirklich ein Rettungsschirm her."

Rembert Stiewe, Mann mit Brille, braunen Haaren und Ohrringen, schaut direkt in die Kamera
Rembert Stiewe organisiert das Orange Blossom Special Festival und betreibt das Label Glitterhouse RecordsBild: WDR/Annika Fußwinkel

Nicht in Fatalismus verfallen

Auch Jan van Weegen ist von den Fans und der Solidarität in der Branche begeistert: "Wir gehen sehr kooperativ an die Sache ran. Es gab keine Regressansprüche und Vertragsstreitereien, es ist allen klar: Die Situation ist eindeutig. Jetzt versuchen wir, gemeinsam den Weg herauszufinden." Als Erster Vorsitzender der Klubkomm, des Verbands der Kölner Clubs und Veranstalter, hat er der Stadt Köln die Situation geschildert, woraufhin ein Hilfsfonds für die Kölner Clubszene installiert wurde. Auf die Frage, wie man als Musikfan die Branche unterstützen kann, verweist van Weegen auf Initiativen wie #bemyquarantine, denn diese Mittel kämen bei den richtigen Leuten an und würden nach wie vor dringend benötigt.

"Ansonsten kann ich nur dazu raten, dass man nicht in Fatalismus verfällt. Wir müssen alle gemeinsam daran arbeiten, dass wir bald wieder zusammen beim Konzert im Club stehen und uns wieder an Bands erfreuen können, die auf Tournee gehen", so van Weegen. Das sieht auch Rembert Stiewe so: "Auf ein Konzert zu gehen oder sich Musik anzuhören ist eben mehr als nur Unterhaltung, es hält die Gesellschaft zusammen. Da stehen Menschen dahinter, und das löst alles etwas aus in den Leuten, die sich damit beschäftigen. Das würde alles wegfallen, wenn die ganze Struktur wegfällt." Vielen hunderttausend Menschen im weltweiten Lockdown hat neben Filmen, Streaming-Serien oder Büchern vor allem die Musik durch die Krise geholfen. Musiker*innen leben im Zeitalter von Spotify und Apple Music fast ausschließlich von Konzerten, die Veranstalter*innen wie Rembert Stiewe und Jan van Weegen auf die Beine stellen. Wenn ihre Branche die Krise nicht überlebt, wird es bald sehr still in Deutschland werden.