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Politik

Merkel, die ausgezeichnete Rednerin

18. Dezember 2020

Flammende Rhetorik ist nicht die Sache der Bundeskanzlerin. Doch ihre Ansprache zur Corona-Pandemie war anders - ein "großartiger und überzeugender Appell".

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Kanzlerin Angela Merkel bei ihrer TV-Ansprache, im Hintergrund das Reichtstagsgebäude
"Denkbar schwere Aufgabe": Die Kanzlerin bei ihrer TV-Ansprache im MärzBild: picture-alliance/dpa/Bundesregierung/S. Kugler

Wenn ein Politiker einen Rednerpreis bekommt, geht es immer auch ein wenig ungerecht zu. Denn die Person, die die Rede geschrieben hat, sitzt bei der Ehrung bestenfalls im Publikum, frei nach dem Motto: Der Kenner schweigt und genießt. So mag es auch diesmal sein, wenn Angela Merkel - für viele Qualitäten gerühmt, doch kaum für jene auf dem Feld der Rhetorik - die Auszeichnung "Rede des Jahres" erhält. Verliehen wird der Preis von der Universität Tübingen, wo einst Walter Jens am Katheder stand und wo man mit gelassenem Understatement auf eine 500-jährige Rhetorik-Tradition zurückblickt.

Die Bundeskanzlerin sprach am 18. März zu den deutschen Fernsehzuschauern, mit Merkel-Raute, im blauen Blazer, neben Deutschland- und Europa-Flagge, das Reichstagsgebäude im Rücken. Der Anlass: die Corona-Pandemie. Die zentrale Botschaft: Es ist ernst. "Eine denkbar schwere Aufgabe", wie die Tübinger Jury befand, die "mit großem rhetorischem Können" gelöst worden sei. Während der französische Präsident Emmanuel Macron in seiner ersten Corona-Rede zu ausladender Kriegsmetaphorik griff und der britische Premier Boris Johnson die Gefahr herunterspielte, sei der Regierungschefin in Berlin "der Spagat zwischen Vernunft und Einfühlungsvermögen" gelungen.

"Starke emotionale Wirkung"

Merkel habe die "Allgegenwärtigkeit des Virus" und die damit verbundenen Risiken aufgezeigt und damit eine "starke emotionale Wirkung erzielt". Sie sagte mit Blick auf mögliche Todesfälle: "Das sind nicht einfach abstrakte Zahlen in einer Statistik, sondern das ist ein Vater oder Großvater, eine Mutter oder Großmutter, eine Partnerin oder Partner, es sind Menschen. Und wir sind eine Gemeinschaft, in der jedes Leben und jeder Mensch zählt."

Deutschland Coronavirus Besuchscontainer eines Altenheims in Düsseldorf
"Mutter oder Großmutter": Besuch in einem Düsseldorfer Altenheim (Archivbild)Bild: Norbert Schmidt/picture alliance

Die Tübinger Preisrichter sprechen von einer "historischen Rede", die "wie kaum eine andere" in den vergangenen Jahren die deutsche Bevölkerung "unmittelbar beeinflusst" haben dürfte. Mit dieser Hymne werden wir unweigerlich an Richard von Weizsäckers Ansprache zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 erinnert - die wohl wirkmächtigste Rede eines Bundespräsidenten bis heute. Hier immerhin ist bekannt, dass nicht dem Freiherrn selbst, sondern vor allem dem universalgelehrten Diplomaten Michael Engelhard der Lorbeer gebührte, der von Weizsäcker damals die Feder führte.

Doch wer darf die Ehre für Merkels Text reklamieren? Wer hat ihn so "anschaulich geschrieben und "gut strukturiert"? Die Kanzlerin habe die Ansprache "engagiert vorgetragen", rühmen die Rhetoriker, und schon dies ist gewisslich des Lobes wert. Doch während Redenschreiber von Willy Brandt - Klaus Harpprecht - und Helmut Schmidt - Thilo von Trotha - es zu eigener Bekanntheit brachten, muss bei dieser Würdigung der ersten Frau im Kanzleramt ein(e) noch Unbekannte(r) genießen und schweigen.

jj/rb (epd, kna)