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Politik

Argentinien und die ewige Quarantäne

26. August 2020

Die Argentinier nennen sie scherzhaft "Cuareterna" statt "Cuarentena" - die längste Quarantäne der Welt. Seit fünf Monaten müssen die Bewohner des Großraums Buenos Aires zu Hause hocken. Die Nerven liegen völlig blank.

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Argentinien | Protest gegen Quarantäne in Buenos Aires
Bild: Getty Images

In einigen Jahren, wenn die Geschichtsbücher über die weltweite Corona-Pandemie berichten, wird man viel über den sogenannten schwedischen Sonderweg lesen, der auf die Eigenverantwortung der Bürger setzte, dem aber viele alte Menschen zum Opfer fielen. Sicherlich wird sich auch ein Kapitel den USA widmen, dem Land mit den höchsten Infektionszahlen und Toten, was US-Präsident Donald Trump möglicherweise die Wiederwahl kostete.

Dann dürfte vielleicht auch von einem Land die Rede sein, das die längste Quarantäne der Welt anordnete, für die es gute Gründe gab, die aber fatale Konsequenzen für die eingesperrte Bevölkerung hatte: Argentinien.

160 Tage Quarantäne - bisher

Am 3. März wurde Argentiniens erster positiv getesteter COVID-19-Fall in Buenos Aires bestätigt, er betraf einen Mann, der aus Mailand zurückgekehrt war. Vier Tage später bestätigte das Gesundheitsministerium den ersten Corona-Toten, gleichzeitig der erste dokumentierte Tote durch das Virus in Lateinamerika.

Argentinien: Coronavirus-Proteste in Buenos Aires
Die Menschen im Großraum Buenos Aires sind nicht stolz auf den Quarantäne-Weltrekord - sie demonstrierenBild: picture-alliance/dpa/AP/N. Pisarenko

Am 20. März trat die landesweite Ausgangssperre in Kraft. Seitdem dürfen die Bewohner des Großraums Buenos Aires, dem Corona-Epizentrums des Landes, nicht mehr aus ihren Wohnungen oder Häusern. Nur wenn sie einkaufen oder in die nächste Apotheke gehen. Seit unendlichen 160 Tagen.

Die Frage, die sich dort viele vollkommen entnervte Argentinier mittlerweile stellen, lautet: Was ist schlimmer? Die Krankheit oder die Medizin dagegen?

Psychologische Kollateralschäden

"Laut einer Studie der Psychologischen Fakultät der Universität Buenos Aires haben heute zwei von drei Argentiniern ernsthafte Schlafprobleme", sagt Rosendo Fraga. Ob das nun ausschließlich an der Corona-Quarantäne liegt oder nicht, fest stehe: "In der Mittelschicht rebellieren die Menschen, bei den Ärmeren beobachtet man ernsthafte Depressionen."

Rosendo Fraga, Argentinien Buenos Aires
"Vor allem in der Mittelschicht wächst die Wut" - der politische Analyst Rosendo Fraga aus Buenos AiresBild: Privat

Fraga leitet einen argentinischen Thinktank in Buenos Aires, der seit Jahrzehnten die politischen und wirtschaftlichen Probleme des Landes beleuchtet. Der politische Analyst hat also ohnehin dauerhaft gut zu tun. Doch jetzt bitten ihn zusätzlich viele um eine Antwort auf die Frage, was eine so lange Quarantäne eigentlich mit einer Gesellschaft macht.

"Die Menschen sind am Ende ihrer Kraft, sie können nicht mehr, ihnen geht es schlecht. Die Regierung von Alberto Fernández hat schlichtweg unterschätzt, was eine so lange Quarantäne psychologisch bei der Bevölkerung anrichtet."

Es ist ja nicht nur so, dass die Argentinier kein Auge mehr zudrücken können. Die Zahl der Depressionen hat sich verfünffacht. Jeder zweite Argentinier verzichtet seit Beginn der Quarantäne auf gesundheitsfördernde Aktivitäten. Fast die Hälfte greift häufiger zum Glas als vor der Pandemie, auch der Konsum von Zigaretten, illegalen Drogen und Psychopharmaka hat drastisch zugenommen. Und sechs von zehn Argentiniern haben Gewicht zugelegt.

Statt große Feier zum 40. Geburtstag allein zu Haus

Während der Großraum Buenos Aires weltweit die führende Quarantäne-Region ist, dürfte Ezequiel Fuentes zu den Menschen gehören, die weltweit am längsten zu Hause sitzen. "Meine Firma hat mich schon eine Woche vor dem Lockdown ins Homeoffice geschickt", sagt Fuentes. Seit 167 Tagen ist der junge Familienvater zusammen mit seiner Frau Marina und Sohn Benito in der Wohnung in Saavedra am nördlichen Stadtrand von Buenos Aires gefangen.

Argentinien, Buenos Aires: Ezequiel Fuentes und Mariana Rimondino
Gefangen in der häuslichen Quarantäne - Ezequiel Fuentes und Ehefrau Mariana RimondinoBild: Privat

"Wir trinken mehr Alkohol als früher, viel mehr", sagt Fuentes, der mitten in der Ausgangssperre seinen 40.Geburtstag feierte - nur mit Frau und Sohn. "Im ersten Moment dachten wir, lass uns gesund leben und in der Wohnung Sport treiben. Aber dann sagten wir uns, wenn wir schon eingeschlossen sind und nicht raus können, dann lass uns wenigstens so gut leben wie möglich."

Die Küsse und Umarmungen, die Familienfeiern, das gemeinsame Grillen mit Freunden - auf all das, was quasi zur argentinischen DNA gehört, müssen viele Argentinier seit Monaten verzichten. Fuentes tut vor allem sein kleiner Sohn leid, der jetzt viel häufiger vorm Fernseher hockt: "Benito ist anderthalb Jahre und fast ein Drittels seines Lebens hat er in Quarantäne verbracht. Es ist sehr schwierig!"

Präsident Alberto Fernández in der Kritik

"Ich bin nicht besessen von der Quarantäne, sondern besessen von der Gesundheit der Argentinier", verteidigte sich Präsident Alberto Fernández bei der zehnten Verlängerung der Quarantäne bis zum 30. August. Der Präsident steht vor einer unlösbaren Aufgabe: Argentinien ist trotz der rigiden Ausgangsbeschränkungen immer noch mitten drin in der Pandemie, hatte allein an diesem Montag mit fast 9.000 Infizierten und 382 Toten die höchsten Zahlen seit Beginn der Corona-Krise.

Denn das Virus findet in Argentinien beste Voraussetzungen vor, sich weiterzuverbreiten: Zum einen leben viele Argentinier in Armut und damit in beengten Wohnverhältnissen und können somit die Abstandsregeln nicht einhalten. Die, die im informellen Sektor arbeiten und ihre Familie ernähren müssen, pfeifen auf die Vorgaben. Und dann traf das Virus das Land auch noch mitten im argentinischen Winter.

Argentinien, Präsident Alberto Fernandez
Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben - der argentinische Präsident Alberto Fernández in der CoronakriseBild: picture-alliance/dpa/telam/Presidencia

"Für die Regierung ist diese Situation extrem schwierig", erklärt Fraga, "die Pandemie ist ausgerechnet jetzt auf ihrem Höhepunkt, und die Leute haben gleichzeitig die ewige Quarantäne einfach satt." Hebt Präsident Fernández in ein paar Tagen die Quarantäne auf, schießen die Corona-Zahlen noch weiter in die Höhe (bisher insgesamt 360.000 Infektionen und mehr als 7500 Tote), verlängert er die Quarantäne noch einmal, gehen die Menschen auf die Barrikaden.

Als der Staatschef Anfang August Familienfeiern und Treffen mit Freunden verbot, platzte vielen Argentiniern der Kragen. Am 17. August, einem nationalen Feiertag zum Gedenken an den Unabhängigkeitskämpfer José de San Martín, gingen Tausende auf die Straße, um gegen die Ausgangsbeschränkungen zu demonstrieren. Denn ausgerechnet in dem Land mit der höchsten Psychologen-Dichte der Welt liegen die Nerven auch blank, weil viele um ihren Job fürchten oder diesen schon verloren haben.

Corona trifft ein Land, das finanziell schon am Boden ist

"Die Arbeitslosigkeit und die Armut sind massiv angestiegen", erklärt Rosendo Fraga. Die Wirtschaft ist in freiem Fall, über 42.000 kleine und mittlere Unternehmen haben seit März dicht gemacht. Und das in einem Land, welches gerade wirtschaftlich die schlimmste Zeit seiner Geschichte durchmacht und die neunte Staatspleite mit einem Schuldenschnitt im letzten Moment gerade noch verhindern konnte. Bis zum Jahresende werden voraussichtlich sechs von zehn Argentiniern in Armut leben.

Eine Pleite nach der anderen

"Die Regierung hat wegen ihres Corona-Krisenmanagements massiv an Zustimmung verloren", erklärt der Politikwissenschaftler. Was auch viel mit ihrer Kommunikation zu tun hat. "Als die Quarantäne am 20. März begann, sagten sie uns, der Höhepunkt werde im April erreicht. Danach war es Mai, dann Juni und Juli. Und bei der jüngsten Verlängerung bis zum 30. August sagte Fernández, der Höhepunkt komme im September."

Argentinien, das lange zu den Ländern gehörte, welche die Pandemie mit am besten im Griff hatten, hat trotz der Quarantäne mittlerweile sogar Schweden in der Statistik der Corona-Toten überholt. Nicht nur Rosendo Fraga sieht für die Zukunft seines Landes schwarz: "Argentinien zeichnet sich seit jeher durch seine Unfähigkeit aus, aus Fehlern zu lernen und diese nicht nochmal zu machen. Vielleicht ändert sich das mit Corona, aber es würde mich doch sehr wundern."