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Corona-Impfstoff wird so schnell nichts ändern

11. November 2020

Die zweite Welle der Pandemie bremst die Wirtschaft weiter aus. Daran ändert die Aussicht auf einen Impfstoff wenig. Wirtschaftswissenschaftler warnen zudem davor, große Zukunftsprobleme aus dem Blick zu verlieren.

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Deutschland Coronavirus - Porsche Produktion
Bild: Marijn Murat/dpa/picture alliance

Klimaschutz, Digitalisierung, demografischer Wandel: Das waren die Top-Themen vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Doch COVID-19 stellt seit Monaten alles in den Schatten, erst recht mit den wieder gestiegenen Infektionszahlen. Wirtschaftswissenschaftler sehen darin ein großes Problem. "Obwohl die Bewältigung der Pandemie aktuell im Vordergrund steht, ist der Strukturwandel eine weitere große Herausforderung", warnt der Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, Lars Feld.

Wirtschaftsweise, so werden die fünf Mitglieder des Sachverständigenrats umgangssprachlich genannt. Seit 1963 beraten sie die Bundesregierung und legen einmal im Jahr ein Gutachten vor, das sie erstmals nicht persönlich im Kanzleramt in Berlin überreichten, sondern nur virtuell in einem Videochat. Verbunden mit einer aktuellen Konjunkturprognose.

Virtuelle Übergabe des Sachverständigenrat Jahresgutachten
In diesem Jahr nur virtuell: Die fünf Wirtschaftsweisen mit ihrem Vorsitzenden Lars Feld (o.l.)Bild: Screenshot/Bund

Wegen der "sehr kräftigen Erholung in den Sommermonaten" fällt sie ein wenig optimistischer aus, als noch im Frühsommer angenommen. Doch für 2020 bleibt ein dickes Minus von 5,1 Prozent. Darin sind die Auswirkungen der aktuellen Schließungen im November bereits eingerechnet.

Die Lage bleibt fragil

Für das kommende Jahr geht der Sachverständigenrat von einem Wachstum von 3,7 Prozent aus. Eine Prognose mit allerdings reichlich Unsicherheit. Die Wissenschaftler betonen, dass die wirtschaftliche Lage angesichts des Pandemieverlaufs fragil bleibe. Der Konjunkturverlauf hänge stark von der Entwicklung der Infektionszahlen ab. "Für die weitere Entwicklung ist entscheidend, wie die Pandemie eingedämmt werden kann und wie sich die Wirtschaft im Ausland entwickelt", so Lars Feld, der als Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg lehrt. Die Aussicht auf einen Impfstoff könne zwar "Erwartungseffekte" erzielen, "darauf verlassen würde ich mich an dieser Stelle aber noch nicht", betont Feld. 

Denn zum einen werde es eine ganze Zeit dauern, bis eine nennenswerte Zahl von Menschen geimpft sei und zum anderen sei eins noch gar nicht klar: "Wir gut wirkt der Impfstoff, wenn wir in der nächsten Saison ein mutiertes Virus haben werden?"

Einschränkungen bleiben

Auch die Bundeskanzlerin mahnt weiterhin zur Vorsicht. Man müsse davon ausgehen, dass die zweite Welle härter sei als die erste und sie werde die Menschen noch den ganzen Winter beschäftigen, so Angela Merkel bei der Übergabe des Gutachtens. "Auch wenn wir jetzt positive Botschaften bezüglich der Entwicklung von Impfstoffen haben, so wird sich das in den Wintermonaten noch nicht in gravierendem Maß niederschlagen, das heißt, da müssen wir unsere Vorsichtsmaßnahmen noch weiter einhalten."

Virtuelle Übergabe des Sachverständigenrat Jahresgutachten
Bundeskanzlerin Angela Merkel schaltete sich mit den Wirtschaftsweisen für die Übergabe zusammenBild: Screenshot/Bund

Für die Wirtschaft heißt das, dass sie noch länger mit Einschränkungen wird leben müssen und dass sie weiterhin auf staatliche Hilfen und Konjunkturmaßnahmen angewiesen sein wird. Für die bisher von der Bundesregierung auf den Weg gebrachten Hilfspakete vergeben die Wirtschaftsweisen gute Noten. Sie seien im Großen und Ganzen "zielgenau".

Nicht zu früh sparen

Die damit einhergehende staatliche Verschuldung kann Deutschland nach Ansicht des Sachverständigenrats gut verkraften. In diesem Jahr wird die Staatsschuldenquote - also das Verhältnis der gesamten Schulden zur Wirtschaftsleistung - auf knapp über 72 Prozent steigen. Das ist deutlich weniger als nach der Finanzkrise 2010, als es mehr als 82 Prozent waren. "Wenn die Erholung da ist, lässt sich die notwendige Konsolidierung ohne Probleme bewerkstelligen", meint Lars Feld, der davon ausgeht, dass sich der Haushalt in großen Teilen über das Wirtschaftswachstum sanieren lässt.

Der Wirtschaftswissenschaftler mahnt, nicht zu früh mit dem Sparen zu beginnen. Zu überlegen sei, für die geltende Schuldenbremse eine erneute Übergangsphase zu vereinbaren. So könnte es bis 2024 - wie bereits 2010 bis 2016 - eine stufenweise Herabsetzung der zulässigen Neuverschuldung geben. Doch davon will die Bundeskanzlerin nichts wissen. "Die Schuldenbremse steht so im Grundgesetz und muss auch Leitschnur für die künftigen Jahre bleiben", betont Merkel.

Blick über die Pandemie hinaus

Ein deutlich offeneres Ohr dürfte die Bundesregierung für die Mahnung der Sachverständigen haben, die großen Problemfelder jenseits der Pandemie wieder stärker in den Blick zu nehmen. Zumal der deutsche Rückstand bei der Digitalisierung gerade in der Corona-Krise deutlich wie nie zuvor geworden ist.

Wie kaum ein anderes europäisches Land hängt Deutschland beim Ausbau des schnellen Internets für alle hinterher. In der Corona-Pandemie bekommen das nicht nur diejenigen zu spüren, die aus dem Home-Office arbeiten. Digitaler Unterricht? In Deutschland Fehlanzeige. Defizite bestehen auch bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen sowie in der öffentlichen Verwaltung.

Das müsse sich dringend ändern, fordert der Sachverständigenrat, der weitere Investitionen in die digitale Infrastruktur und die Reduktion bürokratischer Hürden bei deren Ausbau fordert. Nur so könnten digitale Technologien weiterverbreitet und neue Geschäftsmodelle ermöglicht werden.

Die Menschen werden immer älter

Die deutsche Volkswirtschaft ist aber nicht nur vom digitalen Rückstand bedroht, sondern auch von der Überalterung der Bevölkerung. In den nächsten Jahren werden die sogenannten "Baby-Boomer", das sind die starken Geburtsjahrgänge Mitte der sechziger Jahre, in Rente gehen. Das wird die sozialen Sicherungssysteme in Zukunft stark belasten.

Der Sachverständigenrat empfiehlt, das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Maßstab soll die gestiegene Lebenserwartung sein. Diese müsse man zu einem Drittel in eine längere Rentenphase und zu zwei Dritteln in eine längere Phase der Erwerbsarbeit aufteilen.

Was bewirkt das Gutachten?

Angela Merkel versprach den Wirtschaftsweisen, über ihre Vorschläge nachzudenken und sie zu prüfen. "Wir werden manche Empfehlung umsetzen, manche vielleicht auch nicht sofort", sagte sie und fügte lächelnd hinzu: "Aber das sind sie aus den Jahren ja schon ein bisschen gewöhnt." Es sei aber gerade in dieser schwierigen Zeit wichtig, Anregungen zu bekommen, dafür sei die Bundesregierung durchaus dankbar.